Diethelm
Von Werner Jung
Er wusste nicht mehr so genau, wann und wo er Diethelm zum ersten Mal ein wenig näher kennengelernt hatte. Es war sicher schon einige Jahre her. Und nun war Diethelm tot. Wie ein Stück Wild auf der Straße überfahren. Auf der Straße unten, die die beiden Dörfer miteinander verband. Er soll noch gelebt haben, so die Buschpost unter den Dörflern. Allerdings war man sich nicht sicher, ob er es aus eigener Kraft in den schmalen Graben neben der Straße geschafft hatte oder ob er durch die Wucht des Aufpralls dorthin geschleudert worden war. Den Fahrer des Unfallwagens hatte die Polizei jedenfalls zwei Tage später nach einer großangelegten Suchaktion unter Beteiligung der Bevölkerung wie mit erheblichem medialen Aufwand gefunden; es war der junge Koch aus dem Hotel, der – ordentlich gezecht, vermutlich noch andere Drogen intus – vom Diskobesuch auf dem Weg nach Hause war und vorgab, außer einem kleinen Stoß, vermeintlich durch ein Reh oder eine Sau, nichts bemerkt zu haben. Also war er weitergefahren.
Dieser grausame Tod. Der Täter, ein unauffälliges Bürschchen, Anfang zwanzig. Aber eigentlich hatte es, wusste man und waren sich alle ausnahmsweise einmal einig, genauso kommen müssen. Wie oft schon hatte z. B. die Wirtin Diethelm vorgehalten, er solle, insbesondere wenn er durch den Wald ins Nachbardorf zum Tankstübchen gehe, besser aufpassen, solle helle Kleidung tragen und zusätzlich noch eine Taschenlampe einstecken. Doch hatte Diethelm ihrer Wirtin, der Susi, die die Dorfschenke mit resoluter Hand führte, nur brabbelnd zugestimmt, aber nie wirklich zugehört.
Diethelm, der Säufer, das Dorfunikum, der Trottel vom Dienst. Den niemand ernst nahm, der, gehänselt und bespöttelt, noch mit seinen mehr als 50 Jahren bei seiner Mutter hauste, bittend und bettelnd – da konnte er noch so besoffen sein – durchs Dorf zog, auf der Suche nach einer spendablen Hand, damit er in der Wirtschaft entweder alkoholischen Nachschub vertrinken oder auch – selten genug – Striche vom randvollen Deckel wegnehmen konnte. Er war den hässlichsten aller Säufertode gestorben, brutal überfahren, ohne Chance. Ob es tröstlich für ihn war, dass er vielleicht am Anschlag des Prozentvolumens war, als es ihn erwischt hatte – vielleicht gar so viel, dass er doch irgendwie sanft über die Schwelle gekommen war?
Er stand am Wohnzimmerfenster ihrer kleinen Zwei-Zimmer-Ferienwohnung in L., einem winzigen Dörfchen in der Schneeeifel unweit vom »Schwarzen Mann«. Seine Frau und er hatten vor etlichen Jahren, nachdem sie L. als idealen Ort für Urlaube und ausgedehnte Wanderungen in dieser dünnbesiedelten Region an der Grenze zu Belgien entdeckt hatten, zugleich eine preiswerte Ferienwohnung ausgemacht und waren rasch mit den Vermietern übereingekommen, die Wohnung als Dauermieter zu nutzen. Hier fanden sie die nötige Ruhe, um von ihrem anstrengenden Berufsalltag als Lehrer ausspannen zu können. Sie hatten ihren Vermietern gar nicht glauben können, dass es im 250-Seelen-Dorf L. mit seinen fünf Straßen einmal drei Wirtschaften, eine eigene Post sowie einen Metzger, eine Bäckerei und – in ihrem Haus Parterre, da, wo die überdimensionierte Scheibe saß – sogar einen Obst- und Gemüseladen gegeben hatte. Inzwischen versorgten fahrende Bäcker und Fleischer sowie ein sogenannter Eifeler Frischdienst die Dorfbewohner mit dem Nötigsten. Für alles andere musste man ins nahegelegene Prümm oder auch ins belgische Sankt Vith fahren. Für sie aber, seine Frau und ihn, konnte es nicht Ruhe genug geben, wenn sie in der Regel mindestens einmal monatlich ein Wochenende in L. verbrachten. Von Köln waren sie über die A 1 rasch in der Eifel, Freitag nachmittags, so früh, dass sie noch eine ausgedehnte Wanderung bis zum Abendessen unternehmen konnten.
Er war an diesem Wochenende allein nach L. gefahren, weil seine Frau, die den aktuellen Abiturjahrgang unterrichtete, noch viel Schreibtischarbeit zu erledigen hatte. Er schaute aus dem Fenster auf die schmale Kirchstraße, auf der gerade die Laternen angingen. Direkt gegenüber im Haus des Jagdpächters war alles dunkel; es war offensichtlich nicht die richtige Zeit für die Jagd. Links daneben das alte, heruntergekommene Häuschen, in dem Diethelm mit seiner Mutter gelebt hatte. Ein Fenster im ersten Stock erleuchtet. Gardinen wurden vorgeschoben. Dahinter der Schatten einer alten Frau, Diethelms Mutter, vermutete er. Sie war eine kleine, verhutzelte Frau, die er einige Male auf der Straße getroffen hatte und von der es im Dorf hieß, dass ihre drei Kinder von verschiedenen Männern, ja dass sie das Ergebnis unzüchtiger Beziehungen seien. Und, hieß es gleich hinterher, man solle sich nur einmal genauer die Frau anschauen und würde schließlich dabei dieselben debilen Anzeichen von Unzucht feststellen. Auf den ersten Blick hatte er das zwar nicht bemerkt, doch sprach einiges dafür, dass die Einschätzung der Dörfler nicht ganz abwegig war. Wenn sie, was allerdings nicht so häufig vorkam, eigentlich nur, wenn sie ordentlich gebechert hatten, in einem Anfall von Selbstironie von sich sprachen, dann hieß es, dass sie im Dorf doch alle von derselben Grußmutter abstammten. Das Licht wurde ausgeschaltet, und er wunderte sich, dass sich die alte Frau offensichtlich bereits so früh am Abend zur Bettruhe zurückgezogen hatte. Durch das trübe Licht der Straßenlaterne vor ihrem Haus huschten nacheinander zwei Katzen. Nichts zu hören.
Er erinnerte sich an einen Abend vor einigen Jahren, vielleicht vor drei oder vier, als seine Frau und er hier ebenfalls am Wohnzimmerfenster gestanden hatten und der torkelnde Diethelm sturzbesoffen nach Hause gekommen war, wie immer im Anzug, aber völlig derangiert; dabei fuchtelte er mit beiden Händen wild in der Luft herum, was seinen grölenden Gesang unterstützen sollte. Er fand mit seinem Schlüssel nicht das Türschloss, wurde noch lauter, schlug mit den Fäusten gegen die Haustüre, bis sich diese nach einigen Augenblicken öffnete und Diethelm der Länge nach in den Hausflur hineinstürzte. Schnell wurde die Tür hinter ihm wieder versperrt.
Er versuchte sich vorzustellen, wie oft in seinem Leben Diethelm so abgefüllt nach Hause gekommen war und wie oft seine Mutter dies entweder still leidend oder aber auch, in früheren Jahren zumindest, aufbrausend ertrug. Und wie es dann weiterging hinter verschlossenen Türen, der grunzende, schnorchelnde und stinkende Sohn, der von der Mutter zu Bett gebracht wurde. Die Prozedur des Entkleidens. Fürchterlich das alles. Andere Bilder schoben sich davor. Wie er selbst einmal Diethelm auf der Dorfstraße von L. nach S. aufgegriffen und den irgendwie zwischen Dösen und kurzem Aufzucken delirierenden Säufer nach Hause kutschiert hatte. Noch Tage später hatte er immer wieder nach Urinspuren auf dem Beifahrersitz gesucht.
Wie kam es dazu? Was musste geschehen sein, dass dieser Mensch so abgestürzt war? Was war in seiner Kindheit und Jugend schiefgelaufen? Was hatten seine Geschwister anders gemacht – und vielleicht besser als Diethelm? Für ihn war Diethelm der Dorfalki. So hatten seine Frau und er ihn damals schon kennengelernt, den stets torkelnd sich durchs Dorf Bewegenden, als sie L. als Feriendomizil für sich entdeckt hatten. Dabei hielt sich ihr Interesse an Diethelm als Nachbarn in engen Grenzen. Zuweilen schnappten sie einige Informationen über ihn auf, etwa wenn sie in der Dorfwirtschaft einige Biere trinken gingen und die Dörfler um die Theke versammelt waren, Karten oder Würfel spielten und Klatsch austauschten.
Ein neuer Jagdpächter hatte die Pacht vom alten, inzwischen ganz zurück nach Köln gezogenen K. übernommen, hatte das heruntergekommene Haus renoviert und für weitere Anbauten gesorgt. Durch eine neue Zentralheizung ebenso wie ein komplett neues Dach hatte der Pächter das früher unauffällige zu einem schmucken Haus gemacht. Nur einem hatte der neue Jagdpächter den Laufpass gegeben, Diethelm, der – und dabei horchten seine Frau und er auf – dem alten K. über Jahre hinweg zur Seite gestanden hatte. Er hatte für diesen Kanzeln gebaut und ausgebessert, durfte deshalb zuweilen selbst nächtens mit in den Wald und auch das eine oder andere Mal ein Stündchen bei den Jagdgesellschaften mit dabei sein – ganz adrett, picobello mit Anzug und stolz wie ein Pfau, erzählten die Dörfler und lachten herzlich. Jeder hatte noch ein Bild davon, dass und wie Diethelm nach einer solchen Gesellschaft noch Tage später, längst wieder vom Stumpfsinn des Alkoholismus überwältigt, seinen Stolz durchs Dorf getragen hatte. Der alte K. hatte Diethelm zudem immer wieder auch kleinere Scheine zugesteckt, Scheine, die sofort bei Susi in der Schenke verflüssigt wurden. Mit dem neuen Jagdpächter hatte das freilich abrupt aufgehört – der sei, wurde gemunkelt, nicht einmal auf die Idee gekommen, Diethelm überhaupt anzusprechen. Das sei auch nicht schön. Andererseits. Mit einem Säufer. Und gefährlich noch dazu.
An einem anderen Abend hatte sich die Dorfrunde am Tresen, nachdem Diethelm, dem Susi weiteren Alkohol für diesen Tag verboten hatte, grummelnd abgezogen war, über ihn hergemacht. Weeßte, weeßte, weeßte, so nannten sie Diethelm, der seinem Gegenüber stets mit diesem dreifach skandierten Ausruf Aufmerksamkeit abzuringen versuchte, weeßte, weeßte, weeßte hatte wohl arg leiden müssen. Denn sein Fußballklub, der 1. FC Köln, hatte eine derbe Heimniederlage einstecken müssen, diese ausgerechnet durch Borussia Mönchengladbach. Aus erfindlichen Gründen, weil Diethelm einen Onkel in Köln wohnen hatte, war irgendwann einmal der Effzeh »sein« Verein geworden, und er hielt ihm unverdrossen seit Jahrzehnten die Treue. Sie sollten es getrost einmal testen, so die Dorfrunde, ihrem Tisch zugewandt, und Diethelm nach Fußballergebnissen seines Kölner Effzeh fragen. Die Jahre rauf und runter, auch in den verschiedenen Ligen, Diethelm kenne alle Ergebnisse und füge oft noch die Aufstellungen und Torschützen hinzu. Ein Wahnsinn. Bei einem Menschen, der sein Gehirn versoffen habe und nicht in der Lage sei, einen einfachen Satz ordentlich zu Ende zu bringen. Frage man ihn aber konkret nach dem Effzeh, dann sprudele es geradezu aus ihm heraus, dann verzettele er sich auch nicht. Als sei ein Schalter in seinem Hirn umgelegt worden. Gestochen scharf die Antworten, knapp und präzise, jedenfalls solange, wie die Gesprächspartner Diethelm befragten. Ließe ihn allerdings sein Gegenüber reden, dann ginge es ihm wieder durch, um schließlich in einem unverständlichen Brabbeln zu enden. Meist wende er sich aber zuvor schon unter heftigem Gestikulieren ab. Ja, unser Diethelm, so die Dörfler, schüttelten ihre Köpfe und wandten sich anderen Gesprächsthemen zu.
Die Dunkelheit hatte das Dorf umfangen. Stille rundum. Keine Bewegung auf der Straße. Eine einzige Fledermaus umschwirrte rasant wieder und wieder die Laterne vor der Haustüre. Leichte Wölkchen kräuselten sich aus dem Kamin des Häuschens von Diethelms Mutter; offenbar hatte sie schon jetzt – früher im Jahr als sonst üblich – ihre Holzofenheizung gefeuert. Wie sie wohl ihre Abende verbringen mochte? Strickend, stickend, häkelnd? Oder nur dumpf vor dem Fernseher? Und wie es wohl mit den beiden in den vielen Jahren gemeinsamen Zusammenlebens gelaufen war?
Jetzt fiel ihm ein, wie er zum ersten Mal überhaupt eine längere Zeit mit Diethelm gesprochen hatte. Nein, nicht gesprochen, sondern nur versucht, in dessen Gestammel ein wenig Sinn zu erkennen, um daraus wieder kurze Nachfragen ableiten zu können. An einem Winterabend hatte es früh an der Tür geklingelt, seine Frau und er hatten sich gewundert, sich aber doch entschieden zu öffnen, denn es konnten ihre Vermieter sein, die gelegentlich klingelten, wenn wieder etwas mit der Heizung nicht stimmte. Vor der Türe Diethelm, der ihm mit ausgestreckter Hand einen selbstgedrechselten Kerzenhalter entgegenhielt. Auf seinen Vorschlag, kurz ins Wohnzimmer hineinzukommen, nickte Diethelm kurz und wankte sogleich die Treppe hoch in ihre kleine Zweizimmerwohnung. Dabei murmelte er fortwährend etwas, das nach Entschuldigungen klang, unterlegt mit Hinweisen auf die Herkunft des Halters. Nein, kein Schund aus dem Laden. Selbstgemacht. Davon gebe es noch viel mehr. Sie sollten ihn einmal besuchen kommen. Dieses, wie er mit sichtlichem Stolz erklärte, besonders schöne Teil sei für sie bestimmt, extra für die netten Nachbarn. Und ob sie ihm nicht einmal, nur dieses einzige Mal, mit ein wenig Geld aushelfen könnten. Tränen in den Augen. Sein Brabbeln hatte einen jammernden, unangenehmen Ton angenommen. Nur einmal. Er flehte, bat und bettelte, dass es sie mehr und mehr ärgerte und sie ihn so schnell wie möglich wieder loswerden wollten. Fünf Euro nur, vielleicht zehn. Zehn seien sicher nicht viel, aber sie würden helfen. Rasch hatte seine Frau einen Zehn-Euro-Schein aus ihrem Portemonnaie geholt und Diethelm zugesteckt. Doch war er ins Reden gekommen, stockend und stotternd, wenn man darunter sein Säuferparlando aus vereinzelten, assoziativ gewonnenen Substantiven samt ebenso unzugehörigen Verben zusammenfassen wollte. Seine Mutter und er. Früher. Tischlerlehre. Lange her. Abgebrochen. Aber gearbeitet. Ausgeholfen überall. Immer. Scheißgeschwister. Weg. Von heute auf morgen. Nie gemeldet. Nur er und die Mutter. Rente. Von wegen. Und immer dieser Durst. Trocken der Mund. Und schluckte dabei. Kein Geld. Weinte. So teuer alles. Vor allem die Wirtschaft. Stockte, fuhr erschreckt zusammen. Nur, bitte, nichts der Mutter. Die gute Frau. Gehe auf die 90. Sie beide, seine Frau und er, nickten zustimmend, unterbrachen Diethelm nicht, sondern hofften inständig, ihn auf diese Weise hinauszubekommen. Tatsächlich bewegte er sich wankend, nachdem er sich des Geldscheins versichert hatte, auf die Treppe zu, um mit gehörigem Poltern es irgendwie nach unten zu schaffen. Sie waren oben auf dem Treppenabsatz stehen geblieben, schauten sich fragend an und gingen ans Wohnzimmerfenster, von wo sie Diethelm nach rechts Richtung Wirtschaft hinter der Kurve, die um Kirche und Pfarrhaus herumführte, verschwinden sahen.
Das war in der Folge mehrfach geschehen. In größeren Abständen – und immer so, dass sie ihm nicht aus dem Weg gehen konnten – hatte Diethelm bei ihnen geklingelt oder auch gegen die Haustüre geklopft, und immer wieder hatte er ihnen kleine oder größere Stücke aus vermeintlich eigener Herstellung zum Geschenk gemacht – nicht ohne zuvor Zehn-Euro-Scheine einzufordern. Sie wüssten schon, warum. Der trockene Hals. Und bitte nichts zur Mutter. Sie hatten ihn jedes Mal rasch abgewimmelt, Diethelm den geforderten Schein zugesteckt und die Holzteile, überwiegend Kerzenhalter, auf den Fensterbänken und in Bücherregalen verteilt. Einmal hatte er sich einen größeren Halter genauer angeschaut, weil das Filzplättchen auf der Unterseite nicht vollständig verleimt war und sich löste, um, nachdem er es ein wenig zur Seite geschoben hatte, den Aufdruck »Made in Taiwan« sichtbar werden zu lassen.
Als Diethelm einige Wochen später erneut mit einem weiteren Kerzenhalter klingelte, versuchte er ihm klarzumachen, dass sie nun genügend Exemplare aus seiner Produktion hätten und kein weiterer Bedarf bestehe, was Diethelm – den Zehn-Euro-Schein wie selbstverständlich mit der ausgestreckten Linken fordernd – achselzuckend entgegennahm. Er habe ihnen doch erzählt, dass er zu Hause in seinem Zimmer so viele andere, noch weit schönere Holzdrechselarbeiten liegen habe, von denen sie sich – sie sollten nur einmal vorbeikommen, egal wann – etwas aussuchen könnten. Auch richtig große Sachen. Aber dafür – und er rieb sich Daumen und Zeigefinger – müsse schon etwas mehr her als die läppischen zehn Euro. Dann drehte er sich abrupt um und schwankte wie immer um diese Zeit spätnachmittags in Richtung von Susis Dorfschenke.
An einem Tag hatte er tatsächlich einmal Diethelm Post, irgendeine Rechnung vermutlich, die fälschlicherweise in ihrem Briefkasten gelandet war, zu ihm gebracht. In der Mittagszeit. Er hatte geklingelt, und nach einigen Minuten hatte sich die Tür geöffnet. Dahinter ein verwahrloster Diethelm, der in schmuddeliger Unterwäsche, die vor Urzeiten gewiss einmal weiß gewesen sein mochte, vor ihm stand, etwas stammelte von kurz hereinkommen, nur nicht in sein Zimmer, wo gerade die Mutter sei, aber in seinen Arbeitsbereich. Diethelm torkelte voran, öffnete linker Hand die Tür zu einem Raum, den sie von außen für eine Garage gehalten hatten, und bahnte ihnen einen Weg durch eine gigantische Müllhalde. Erkennbar darin eine alte, seit Jahren oder Jahrzehnten nicht mehr benutzte Werkbank mit allerlei Hobeln und anderen Holzgerätschaften, drumherum Kisten und Kartons, alte Möbel, Decken und Matratzen, Geschirr und Porzellan, Flaschen in allen Größen und Formen, verstaubte Dosen, die was auch immer enthalten hatten. Hier, so Diethelm, arbeite er, wenn er denn Zeit finde und die Mutter ihn lasse. Und grinste dabei, während er aus einem verstaubten Winkel der Müllhalde wieder eine Holzarbeit fischte und ihm entgegenstreckte. Ein ganz besonders edles Stück. Aber eines, das er nicht unter zwanzig Euro hergeben könne. Doch er wimmelte Diethelm ab, vielleicht ein anderes Mal. Nur heraus aus diesem stinkigen Müll. Oben schien die Mutter reinezumachen, das Geräusch eines in die Jahre gekommenen Staubsaugers, ein dumpfes Röhren, ließ sich vernehmen, als er sich von Diethelm abwandte und zur Haustüre ging. Hinter ihm Diethelms Bettelei, plötzlich ein Krachen, umgestoßene Kisten und Kartons. Diethelm musste wohl der Länge nach hingefallen sein, was ihn aber nicht weiter zu stören schien, denn er jammerte und faselte weiter von seinen Drechselarbeiten. Froh, wieder auf der Straße zu stehen, bemerkte er seine Frau, die mit fragendem Blick hinter dem Wohnzimmerfenster stand.
Wenn er sich richtig erinnerte, dann hatte er Diethelm vor dessen fürchterlichen Ende zuletzt an einem Abend bei Susi getroffen. Neben Susi hielt sich noch der dicke Engelbert, ein Quartalstrinker, tapfer am Tresen fest. Volksmusik schallte im Wirtsraum, viel zu laut. Diethelm hockte auf einem Stuhl, über eine auf dem Tisch liegende Papierrolle gebeugt, die sich bei näherem Hinsehen als Teil eines Tapetenstücks herausstellte. Mit zittrigen Fingern hielt er einen Bleistiftstummel, mit dem er ab und an etwas in irgendwelche Kästchen hineinschrieb – mit voller Konzentration, wie es schien. Als Diethelm ihn bemerkte, machte er mit einer einladenden Kopfbewegung deutlich, dass er zu ihm, Diethelm, kommen möge. Neugierig trat er an den Tisch und schaute auf das Tapetenstück: Eine Art Piktogramm, Diethelm hatte die aktuelle Saison seines 1. FC Köln penibel notiert, alle Spieltage und Begegnungen in chronologischer Reihenfolge samt Aufstellungen der Spieler und Notizen zur jeweiligen Partie, Torschützen, besondere Vorkommnisse wie rote und gelbe Karten. Er erklärte, dass seine Aufzeichnungen bis in die ersten Bundesligajahre zurückreichten und dass das damals in den 60er Jahren überaus schwer gewesen sei, über die Spiele Informationen zu bekommen, die er zumeist am Radio aufgeschnappt und sofort notiert habe. Alles sei zu Hause in seinem Arbeitszimmer, das er ja bereits kenne, in einer Kiste verwahrt. Aber hier oben, so Diethelm augenzwinkernd, habe er sowieso alles gespeichert und tippte sich an den Kopf. Man möge ihn nur einmal fragen. Sowohl Susi als auch Engelbert, die kurzfristig Interesse signalisiert hatten, wandten sich wieder ab, als Diethelm ansetzte, sein Wissen über den Effzeh auszubreiten. Diethelm rollte wütend sein Tapetenstück zusammen und verließ grußlos die Wirtschaft.
Das war, erinnerte er sich nun sehr genau, tatsächlich die letzte Begegnung mit Diethelm gewesen. Jetzt war Diethelm tot, überfahren von einem seinerseits besoffenen jungen Menschen, ließ seine alte Mutter in ihrem viel zu großen Haus zurück und hinterließ jede Menge überflüssiges Gerümpel, seine Aufzeichnungen über den Effzeh, zahllose Drechselarbeiten und vielleicht, nein, ganz bestimmt, nur überwiegend lästige Erinnerungen.
Werner Jung ist Germanist und lehrte an der Universität Duisburg-Essen
links & bündig gegen rechte Bünde
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