»Es ist ein epochaler Einschnitt«
Interview: Jörg TiedjenSie waren gerade erst für Medico international in Syrien. Wie erklären Sie sich die jüngsten Geschehnisse, bei denen sich bewaffnete Kräfte der HTS und Anhänger der gestürzten Regierung bekämpften und auch alawitische Zivilisten massakriert wurden?
Es sind widersprüchliche Signale, die wir in den vergangenen Tagen aus Syrien bekommen haben. Als wir im Februar dort waren, gab es eigentlich eine zuversichtliche Stimmung. Man hat diesen Gewaltausbruch nicht unmittelbar kommen sehen. Wir waren allerdings nicht an der Küste. Dort und an anderen Orten hatte es schon nach dem Sturz von Baschar Al-Assad »Rachetötungen« gegeben, die nicht nur Vertreter der alten Regierung trafen. Auslöser der jetzigen Pogrome mit wohl mehr als 1.000 zivilen Todesopfern war quasi ein Aufstand. Bewaffnete alawitische Gruppen töteten in einem Hinterhalt 16 HTS-Einsatzkräfte der Übergangsregierung in Damaskus bei dem Versuch, einen General des Assad-Regimes zu verhaften. Danach griffen sie weitere Regierungseinrichtungen in koordinierten Attacken an. Es folgten bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen regulären Sicherheitskräften und den assadtreuen Gruppen. An den darauffolgenden Pogromen gegen die Zivilbevölkerung waren viele verschiedene Gruppen beteiligt, meist irreguläre Milizen, aber auch Mitglieder von Haiat Tahrir Al-Scham, HTS, die heute die Macht in den ehemaligen Regimegebieten innehat. Medico-Partnerorganisationen in Syrien berichten uns von Zehntausenden irregulären Kräften, die aus verschiedenen Städten und Regionen mobilisiert wurden und an die Küste nach Latakia und Tartus geströmt sind. Es entwickelte sich eine Eigendynamik, die von der Übergangsregierung nicht mehr kontrolliert werden konnte. 6.000 bis 7.000 Alawiten sind in den Libanon geflohen, die Angst unter ihnen ist sehr groß.
Wohin bewegt sich Syrien, wird es weiter auseinandergerissen, oder gibt es eine Chance des Neubeginns?
Viel wird davon abhängen, wie die Zentralregierung in Damaskus mit diesen Ereignissen umgeht. Es wurde eine Untersuchungskommission eingerichtet, die binnen 30 Tagen Ergebnisse vorlegen soll. Einige verantwortliche Kommandeure militanter Gruppen, die an dem Pogrom beteiligt waren, wurden verhaftet. Am Umgang mit den Geschehnissen wird sich der Übergangspräsident Ahmed Scharaa von der HTS messen lassen müssen, weil er ja seit Dezember immer wieder sagt: Wir sind für ein integratives politisches System, wir sind für ein einheitliches Syrien, in dem alle Minderheiten ohne Angst unter Wahrung ihrer kulturellen und politischen Rechte als Staatsbürger leben können.
Ein positives Signal war vor allem die Einigung mit den kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräften, SDF.
Das war genau einen Tag nach diesen Massakern. Man kann es durchaus als Versuch deuten, dass Scharaa sich rehabilitieren möchte: Ihm sei da etwas entglitten, aber dafür gebe es nun das Memorandum mit der Selbstverwaltung in Nordostsyrien. Das lag gewissermaßen in der Schublade und wurde genau dann rausgeholt. Nach der Einigung der Zentralregierung mit den SDF gab es im ganzen Land öffentliche Feiern und eine große Erleichterung – zeitgleich kam es in Gegenden der Selbstverwaltung zu Demonstrationen, die die Gewalt gegenüber den Alawiten klar verurteilten. Unsere Partner vom Kurdischen Roten Halbmond sprechen ebenfalls von einem Zeichen der Hoffnung. Selbst aus Tartus, einem der Hotspots des Pogroms, habe ich Videos gesehen, die diese Einigung gefeiert haben, weil das ein Riesenzeichen an das Land ist, dass hier der nächste, möglicherweise sehr blutige Konflikt erst mal abgewendet worden ist und statt dessen ein politischer Prozess angestoßen wurde.
Scharaa hatte erst vor kurzem ein siebenköpfiges Komitee eingesetzt, das die Konferenz des nationalen Dialogs vorbereiten soll. Im Komitee waren keine Minderheiten vertreten, also weder Kurden, Alawiten noch Drusen oder Christen. Da müsste er wohl umlenken?
Es wird nicht ohne die Integration aller Gruppen gehen. Wir haben Syrien immer als ein Land erlebt, das nicht auf konfessionellen Strukturen aufgebaut ist, auch wenn es diese ganzen Gruppen gibt. Jenes siebenköpfige Gremium war tatsächlich sehr homogen, und in ihm waren keine Minderheiten vertreten, was auch zu Kritik geführt hatte. Ich hoffe, das Memorandum zwischen der Zentralregierung und der kurdischen Minderheit ist der Neustart und der Versuch der Zentralregierung, ein politisches Gebilde zu schaffen, das überlebensfähig ist. Ich bin vorsichtig optimistisch.
Wie verlief denn Ihr jüngster Besuch in Syrien?
Wir waren zu viert in zwei Reisegruppen unterwegs. Zwei Kollegen waren in den Gebieten der Selbstverwaltung in Nordostsyrien, in Kamischli, und dann sind sie bis Hasaka gefahren. Medico unterstützt dort seit vielen Jahren Partnerorganisationen, den Kurdischen Roten Halbmond zum Beispiel. Ich bin mit einem weiteren Kollegen über den Libanon eingereist nach Damaskus und dann nach Norden, nach Idlib, Aasas und Afrin. In Idlib und Aasas haben wir Partnerorganisationen getroffen, die Medico zum Teil seit 2018 unterstützt. Ein Frauenzentrum in Idlib und ein Zentrum für politische Bildung und Menschenrechte in Aasas bei Afrin. Es war wichtig für uns, unsere Partner nach dem Sturz des Regimes zu sehen, ihnen unter den veränderten Bedingungen in Ruhe zuzuhören und so auch ein Gefühl für die neue Lage zu bekommen. Was wir letztlich gesehen haben, übersteigt die eigene Vorstellungskraft: Der Wiederaufbau des Landes wird ein gigantisches Unterfangen, noch immer gibt es Millionen intern Vertriebene, die seit Jahren in Zeltlagern überleben. Zugleich sind die psychischen Folgen des Krieges auf die Bevölkerung immens, und die Verarbeitung dessen wird sicherlich genauso lange benötigen wie der materielle Wiederaufbau.
Arbeitet Medico auch in Gebieten, die unter Kontrolle der Assad-Regierung standen?
Ja. Eine Partnerorganisation von uns in Damaskus förderten wir zum Beispiel klandestin, da eine öffentliche Unterstützung unter Assad nicht möglich gewesen wäre. Es handelt sich um das Anwaltskollektiv um den syrischen Anwalt Anwar Al-Bunni, der seit Jahren im Berliner Exil lebt. Al-Bunni hatte eine tragende Rolle bei dem ersten Gerichtsprozess überhaupt gegen einen der Schergen aus dem Foltersystem der Assad-Diktatur. Al-Bunnis Netzwerk von Anwälten in Damaskus unterstützen wir weiterhin, weil sie jetzt in der Übergangsphase eine sehr wichtige Funktion haben. Sie sichern aus den Gefängnissen und in den Behörden Unterlagen, um dann später eine strafrechtliche Verfolgung von Funktionären des alten Regimes zu ermöglichen. Zentral ist ihre Arbeit zum berüchtigten Foltergefängnis Sednaja, das wir auch besucht haben.
Diejenigen, die sich etwas zuschulden haben kommen lassen, müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Bei den vielen Gesprächen, die wir auf unserer Reise geführt haben, spielte das Thema einer Übergangsjustiz und -gerechtigkeit immer wieder eine große Rolle. Die Menschen sind erschöpft, sie wollen keinen Krieg und keine bewaffneten Auseinandersetzungen mehr. Aber viele können sich vorstellen, dass es wieder zu Konflikten kommen könnte, wenn niemand für die Verbrechen der letzten Jahrzehnte zur Rechenschaft gezogen wird und sie nicht aufgeklärt werden. Dies gilt im übrigen auch für die Verbrechen und Menschenrechtsverstöße, die während des Krieges von bewaffneten Gruppen verübt wurden. Die Menschen wollen Aufklärung, sie wollen Gerechtigkeit. Ob in Form von Gerichtsverfahren oder einer Wahrheits- oder Versöhnungskommission, ist allerdings erst einmal Zukunftsmusik.
Die Milizen sind aber überwiegend in der HTS aufgegangen, die jetzt in Damaskus an der Macht ist …
Es gab ein schwer zu durchschauendes Dickicht an Milizen. Phasenweise gab es viele Dutzende Gruppen. Die HTS ist wie eine Dachorganisation, in der sie aber die dominante Rolle einnimmt. Das ist ein Unterschied zur sogenannten Syrischen Nationalarmee, die direkt aus der Türkei unterstützt wird. Die SNA besteht aus circa 30 Milizen. Wobei jede Miliz auf eigene Rechnung arbeitet, und das ist wirklich ein Problem. Wir waren auch im SNA-Gebiet in und um Afrin mit dem Auto unterwegs. Da sieht man an jedem Checkpoint ein anderes Logo. Sie sind auch in der Region für die schlimmsten Menschenrechtsverbrechen verantwortlich, vor allem, wenn es gegen die kurdische Zivilbevölkerung geht. Die SNA vertreibt heute noch Kurden aus ihren Häusern und erpresst Schutzgeld. Das haben wir in Afrin von den Leuten gehört: Wenn du zurückwillst in deine Wohnung, dann gib uns 3.000, dann gib uns 5.000 Dollar! Vor allem in den Dörfern, wo es keiner sieht, passiert so etwas. Das kennen die Leute von der HTS in der Form nicht. Aber in der HTS sind nach wie vor Gruppierungen, die für Menschenrechtsverbrechen verantwortlich sind. Deshalb betrifft die Frage der Übergangsjustiz auch die HTS: Wie wahrscheinlich ist es, dass sie sich selbst oder Teile ihres Apparates vor Gericht stellt oder einer Rechenschaft unterzieht? Da bin ich eher skeptisch.
Viele Menschen in Syrien feiern dennoch völlig zu Recht die Revolution und freuen sich, dass Assad weg ist. Sie sehen die HTS aber auch kritisch. Was die HTS in der Provinz Idlib bewerkstelligt hat, ist der Aufbau ziviler Strukturen, während sie zugleich immer mehr Gruppen inkorporiert hat. Sie hat angefangen, eine Gerichtsbarkeit aufzubauen, die schariarechtlich funktioniert. So gibt es zumindest eine gewisse Klarheit darüber, was erlaubt ist. Zuvor herrschte eine unübersichtliche Anzahl an Regelwerken, die nicht selten auch noch willkürlich ausgeführt worden sind.
Gibt es denn eine Theorie darüber, wie es so plötzlich zu dem unerwarteten Sturz Assads durch die HTS kommen konnte?
Während der Offensive der HTS, die zum Fall des Regimes führte, gab es das Katar-Forum. Die Mitglieder des »Astana-Prozesses«, Russland, Türkei und Iran, trafen sich am Rande des Forums auch zu Gesprächen über Syrien. In den Monaten zuvor hatte es ja noch geheißen, dass es eine Annäherung zwischen Syrien und der Türkei gebe, aber plötzlich nicht mehr. Und meine Interpretation ist, dass Assad sich da zu lange hat bitten lassen. Kurz gesagt, ich glaube, sie haben ihn fallenlassen wie eine heiße Kartoffel. Die Russen, die Iraner. Aber warum? Wir wissen, dass der Iran seit Jahrzehnten unter Sanktionen leidet. Die israelischen Angriffe haben ihm wohl auch mehr zugesetzt, als öffentlich bekannt ist. Russland wiederum ist mit der Ukraine genug beschäftigt.
Die andere Frage ist, warum dann auch intern alles so schnell zerfiel und gar nicht gekämpft wurde in den vom Regime kontrollierten Gebieten. Aber die Lage ist dort absolut verheerend, anders als in der Provinz Idlib. Man sieht Geisterstädte, aus denen noch aus den Ruinen alles geplündert wurde. In Damaskus gibt es so gut wie keinen Strom. Das Internet funktioniert nicht wirklich. Selbst das normale Telefonnetz hat an zwei Tagen nicht richtig funktioniert. Die Soldaten haben zum Teil gar keinen Sold mehr bekommen oder ganz wenig. Es gibt die Inflation. Wir haben eine Gruppe von Lehrern während des Krieges unterstützt, die im Umland von Damaskus Untergrundschulen betrieben haben. Sie haben für die letzten vier Monate jeweils 20 Dollar Gehalt bekommen. Der Staat war also einfach pleite, das Regime dachte nur noch an sein Überleben. Ich glaube, dass, als die Offensive der HTS dann losging, alles in sich zusammenfiel wie ein Kartenhaus. Ich habe gerade den letzten UN-Bericht gelesen, darin heißt es: Syrien benötigt 55 Jahre, um bei gleichbleibender Wirtschaftsentwicklung wieder auf Vorkriegsniveau zu gelangen. 75 Prozent der Bevölkerung sind heute auf humanitäre Hilfe angewiesen.
Waren Sie nur wegen der Anreise im Libanon, oder gibt es auch dort Projekte?
Auch da haben wir Partnerorganisationen. Es war der komplette Gegensatz. In Syrien ist alles kaputt, und die Leute sind traumatisiert. Aber gleichzeitig ist die Stimmung nach vorne gerichtet: »Wir bauen jetzt unser Land auf, Assad ist endlich weg, und wir können frei atmen.« Im Libanon ist es genau umgekehrt. Die Leute denken, aus diesem Land wird nie wieder etwas. Die Wirtschaft liegt am Boden. Die Inflation ist hoch. Der Strom fällt ständig aus.
Der jüngste Krieg mit Israel hat zudem psychologisch tiefe Spuren hinterlassen. Alle sagten uns, das sei der schlimmste Krieg, den der Libanon je erlebt habe. Der Krieg wirkte sich negativ auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt aus, weil Israel in erster Linie schiitische Strukturen bombardiert hatte. Das führte dazu, dass Leute, die fliehen mussten und nach einer Unterkunft suchten, danach beurteilt wurden, ob sie ein militärisches Ziel der Israelis sein könnten. Die Leute hatten alle Angst.
In Südbeirut sieht man sehr viele Zerstörungen, im südlich gelegenen Nabatija noch mehr. Es war kein Flächenbombardement, aber in Straßenzügen fehlen immer wieder ganze Blöcke, und das sind dichtbesiedelte Gebiete. Zum Teil waren es neunstöckige Wohngebäude, die dem Erdboden gleichgemacht wurden. Eine unserer Partnerorganisationen, Amel, eine große Gesundheitsorganisation, bietet Menschen Basisgesundheitsversorgung an, die es sich sonst nicht leisten können, zum Arzt zu gehen. Sie zahlen symbolisch zwei Dollar für die Behandlung. Zwei von Amels Gesundheitszentren in Beirut wurden so stark beschädigt, dass sie kernsaniert werden mussten. Und ein Gesundheitszentrum in Khijam im Süden des Landes wurde komplett zerstört. Israel hat gezielt zivile Infrastruktur bombardiert.
Wie schätzen Sie denn die politische Lage ein?
Die Hisbollah im Libanon ist militärisch und politisch geschlagen. Der Rückhalt in der Bevölkerung ist aber noch da. Zum Teil, würde ich sagen, sogar noch stärker als vorher. Der Waffenstillstand in dieser Form bedeutet eine gravierende Einschränkung der libanesischen Souveränität. Israel verletzt häufig die getroffenen Vereinbarungen und besetzt zum Beispiel weiterhin libanesisches Territorium.
Syrien steht ebenfalls vor einem Neuanfang. Die Entwicklungen der vergangenen Monate bedeuten einen epochalen Einschnitt – im Libanon und in Syrien. In beiden Ländern ist jeweils eine politische Struktur zusammengebrochen bzw. zerschlagen worden, die die letzten vier bzw. fünf Jahrzehnte die Geschicke der Menschen bestimmt hat. Für beide Länder ist die Zukunft ungewiss. Ob sie Stabilität und Wohlstand erreichen oder in weiterer Unsicherheit verharren, hängt von inneren Reformen, regionalen Dynamiken und der internationalen Ebene ab.
Imad Mustafa ist Referent für Menschenrechte von Medico inter-national und in der Öffentlichkeits-abteilung zuständig für Ägypten, Irak, Libanon und Syrien.
Medico international ist eine 1968 gegründete Hilfs- und Menschenrechtsorganisation mit Sitz in Frankfurt am Main. 1997 wurde sie als Mitinitiatorin der Kampagne zum Verbot von Landminen mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
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