Schraube ohne Ende

Amerika wurde durch den Bürgerkrieg von 1861 plötzlich auf seine eigenen Hilfsmittel angewiesen, hatte eine plötzliche Nachfrage nach Industrieprodukten aller Art zu befriedigen und konnte dies nur durch Schaffung einer eigenen inländischen Industrie. Die Kriegsnachfrage hörte auf mit dem Krieg; aber die neue Industrie war da und hatte der englischen Konkurrenz die Spitze zu bieten. Und der Krieg hatte in Amerika die Einsicht zur Reife gebracht, dass ein Volk von fünfunddreißig Millionen, mit der Fähigkeit, seine Zahl in längstens vierzig Jahren zu verdoppeln, mit fast unbeschränkten Hilfsquellen aller Art, umgeben von Nachbarn, die auf Jahre hinaus wesentlich ackerbautreibend sein müssen, dass solch ein Volk »die offenbare Bestimmung« habe, für seine Hauptverbrauchsartikel von fremden Industrien unabhängig zu werden, und zwar im Frieden sowohl wie im Krieg. Und daraufhin führte Amerika den Schutzzoll ein.
Vor ungefähr fünfzehn Jahren reiste ich im Eisenbahnwagen mit einem intelligenten Glasgower Geschäftsmann, der ein besonderes Interesse an Eisen nahm. Die Rede kam auf Amerika. Er gab mir die altbekannten Freihandelsredensarten zum besten: Sei es nicht unbegreiflich, dass geriebene Geschäftsleute wie die Amerikaner ihren einheimischen Hüttenbesitzern und Fabrikanten Tribut zahlen, wo sie doch denselben oder gar einen besseren Artikel für den halben Preis von hier aus beziehen können? Und dann folgten Beispiele, wie wahnsinnig hoch die Amerikaner sich selbst besteuerten, um ein paar geldgierige Besitzer von Eisenhütten zu bereichern. »Nun«, sagte ich, »die Sache scheint auch eine andere Seite zu haben. Sie wissen, dass in Kohlen, Wasserkraft, Eisen- und andern Erzen, wohlfeilen Nahrungsmitteln, einheimischer Baumwolle und andern Rohstoffen Amerika Hilfsquellen und Vorteile besitzt, worin ihm kein europäisches Land das Wasser reicht; und dass diese Hilfsquellen nur dann vollständig entwickelt werden können, wenn Amerika ein Industrieland wird. Sie werden ferner zugeben, dass heutzutage ein großes Volk wie die Amerikaner nicht ewig bloß ackerbauend bleiben kann; dass das eine Verurteilung zu ewiger Barbarei und Unterordnung wäre; heutzutage kann kein großes Volk bestehn ohne eigene Industrie. Nun gut. Wenn Amerika ein Industrieland werden muss, und wenn es alle Aussicht hat, hierin seine Nebenbuhler nicht nur zu erreichen, sondern selbst zu schlagen, dann stehn ihm zwei Wege offen: entweder bei freiem Handel während meinetwegen fünfzig Jahren einen äußerst kostspieligen Konkurrenzkampf zu führen gegen die englische Industrie, die ihr um hundert Jahre voraus ist; oder aber durch Schutzzölle die englische Konkurrenz auf meinetwegen fünfundzwanzig Jahre auszuschließen mit der fast absoluten Gewissheit, dass am Ende der fünfundzwanzig Jahre die amerikanische Industrie auf dem offenen Weltmarkt ihren Platz behaupten wird. Welcher der beiden Wege ist der wohlfeilste und der kürzeste? Darum handelt es sich. (…)« Mein schottischer Freihändler hatte kein Wort der Erwiderung.
Da das Protektionssystem ein Kunstmittel ist, Fabrikanten zu fabrizieren, kann es nützlich erscheinen nicht nur einer halbentwickelten Kapitalistenklasse, die noch mit dem Feudalismus ringt. Es kann der aufkommenden Kapitalistenklasse auch vorwärtshelfen in einem Lande, das, wie Amerika, den Feudalismus nie gekannt hat, das aber auf der Entwicklungsstufe steht, wo der Übergang vom Ackerbau zur Industrie eine Notwendigkeit wird. Amerika, in diese Lage gebracht, entschied sich für den Schutzzoll. Seit jener Entscheidung sind die 25 Jahre, von denen ich meinem Reisegefährten sprach, so ziemlich verflossen, und wenn ich mich nicht täuschte, so muss der Schutzzoll jetzt in Amerika seine Arbeit so ziemlich getan haben und muss deshalb entbehrlich sein. (…)
Der Schutzzoll ist im besten Falle eine Schraube ohne Ende, und man weiß nie, wann man mit ihm fertig ist. Wenn wir einen Geschäftszweig schützen, so schädigen wir direkt oder indirekt alle anderen und müssen sie demzufolge ebenfalls schützen. Dadurch schädigen wir aber wieder die zuerst geschützte Industrie und geben ihr Anspruch auf Entschädigung; aber diese Entschädigung wirkt wiederum auf alle anderen Geschäftszweige zurück und berechtigt sie zu neuen Ansprüchen – und so fort ins Unendliche. (…) In dieser Beziehung bietet Amerika ein schlagendes Exempel, wie man eine wichtige Industrie durch Zollschutz töten kann. (…) Vor 40 Jahren drohte die amerikanische Flagge der englischen auf dem Ozean den Rang abzulaufen; jetzt ist sie fast verschollen. Der Zollschutz für den Schiffbau hat Schiffahrt und Schiffbau ruiniert.
Friedrich Engels: Schutzzoll und Freihandel. Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von Karl Marx’ »Rede über die Frage des Freihandels« (vom 9. Januar 1848). Lee and Shepard, Boston 1888. Hier zitiert nach: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke Band 21 (MEW). Dietz-Verlag, Berlin 1969, Seiten 364–366
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