Gegründet 1947 Mittwoch, 16. April 2025, Nr. 90
Die junge Welt wird von 3005 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 18.03.2025, Seite 7 / Ausland
Gewerkschaftshaus in Odessa

Massenmord laufengelassen

Europäischer Menschenrechtsgerichtshof verurteilt Ukraine wegen Untätigkeit während des Massakers in Odessa am 2. Mai 2014
Von Reinhard Lauterbach
imago61453872.jpg
Wenn es nach der EU geht, waren die Opfer selbst für das Massaker in Odessa verantwortlich (Odessa, vor dem Haus der Gewerkschaften, 2.5.2014)

Die Ukraine muss den Hinterbliebenen einiger Opfer des Massakers von Odessa Schadenersatz in noch zu bestimmender Höhe zahlen. Dies ist die Konsequenz eines in der vergangenen Woche ergangenen Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strasbourg. Geklagt hatten 25 Angehörige von Menschen, die bei den Auseinandersetzungen im in Brand gesetzten Gewerkschaftshaus ums Leben gekommen waren.

Die fünfköpfige Kammer – einer der Richter war aus der Ukraine – hält es für erwiesen, dass sich die örtlichen Behörden in Odessa über lange Zeit gleichgültig gegenüber der eskalierenden Gewalt zwischen »proukrainischen« und »prorussischen« Demonstranten verhalten hätten. Damit hätten sie ihrer Pflicht zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung nicht genügt. Auch wenn das Urteil den Hinterbliebenen Entschädigungen zuspricht, ist es politisch überwiegend antirussisch orientiert. Es wirft den örtlichen Behörden in Odessa Untätigkeit bis hin zu einer stillschweigenden Komplizenschaft der lokalen Polizei mit den Anti-Maidan-Demonstranten vor. Sie hätten die Angriffe auf den am 2. Mai geplanten »proukrainischen« Marsch von angeblichen Fußballfans weder verhindert noch bekämpft. Es hält sich somit im Rahmen des ukrainischen Narrativs, wonach die Gewalt von den Maidan-Gegnern ausgegangen sei. Hinweise auf eine Verwicklung der Kiewer Regierung bzw. der mit ihr sympathisierenden gewaltbereiten rechten Milieus in die Provokation der Gewalttätigkeiten fehlen völlig. Die Untätigkeit der Feuerwehr angesichts des im Gewerkschaftshaus gelegten Brandes wird nicht politisch bewertet, sondern als Versagen in der Gefahrenabwehr auf die technische Seite des Geschehens reduziert.

Einer der Brandstifter von Odessa am 2. Mai 2014 ist am vergangenen Sonnabend auf offener Straße erschossen worden. Demjan Ganul war der langjährige Chef des »Rechten Sektors« in der Stadt, nach anderen Quellen auch der gesamten Organisation in der Ukraine. Überwachungsvideos zeigen, wie ein Mann Ganul erst niederschoss und dann noch einen »Kontrollschuss« in seinen Kopf abgab. Passanten nahmen nach den Aufnahmen von der förmlichen Hinrichtung Ganuls kaum Notiz. Der Schütze, ein aus der ukrainischen Armee desertierter Leutnant, wurde wenige Stunden nach der Tat festgenommen, nach anderen Quellen soll er sich selbst gestellt haben.

Die ukrainische Staatsanwaltschaft sprach von einem Auftragsmord, der in Russland bestellt worden sei. Diese Erklärung ist jedoch weniger einleuchtend, als es auf den ersten Blick erscheinen kann. Denn Ganul hatte sich Feinde sowohl im Milieu der Drogenszene von Odessa als auch bei wehrpflichtigen Männern gemacht. Ganul und seine Leute hatten zuletzt Razzien gegen wehrunwillige Männer in Odessa und Umgebung veranstaltet. Der Widerstand gegen die Zwangsrekrutierungen in der Ukraine nimmt immer öfter auch militante Formen an: Brandstiftungen an Autos der Rekrutierungskommissionen sind an der Tagesordnung, Beamte der Wehrersatzbehörden riskieren inzwischen, auf offener Straße tätlich angegriffen zu werden. In Einzelfällen wurde auch über Schüsse aus Jagdgewehren auf Rekrutierer berichtet. Ganul soll nach ukrainischen Medienberichten anonyme Zuschriften mit dem Inhalt »Wir kriegen dich« bekommen haben.

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Ähnliche:

Mehr aus: Ausland