Unter Druck
Von Maximilian Schäffer
Zeiten ändern sich: In den 1930er Jahren ist der Berufsstand des Theaterkritikers noch ein angesehener. Angeblich liest die Bevölkerung begierig, was ein Besserwisser ihnen an Geschmack und Analyse vorsetzt. Jimmy Erskine ist ein solcher, der angesehenste Miesmacher Londons – altersreif, belesen, flamboyant und schwul. Seine Potenz speist sich aus Gemeinheiten gegenüber Regisseuren und Schauspielern, er entlädt sie nachts im Park, wo er Strichjungen der Arbeiterklasse für Sex bezahlt. Ein Mann vom Format eines Oscar Wilde, der wie sein Vorbild bereits mit einem Bein in der Tretmühle steht. Diesen Erskine gab es so nie, seine angebliche Zeitung, den Daily Chronicle, zumindest nicht dem filmischen Narrativ entsprechend.
In Anand Tuckers 101 Minuten langem Thrillerdrama »The Critic« verstirbt ein alter, liberaler Zeitungsmogul und hinterlässt das Blatt seinem Sohn – einem aufstrebenden Faschisten. Überhaupt sind Faschisten auf einmal überall auf Londons Straßen. Tatsächlich dürften im angesetzten Jahr 1934 Oswald Mosleys Schlägertruppen von der British Union of Fascists ihre sichtbarste Präsenz gezeigt haben. Bereits zwei Jahre später wurde in Großbritannien das Tragen von politischen Uniformen im öffentlichen Raum per Gesetz untersagt. König, Adel und Parlament hatten aber wohl vor den paar tausend lokalen SA-Komikern weniger Bammel als vor ernsten Kommunisten und – allen voran – vor der irischen Unabhängigkeitsbewegung.
Ungeachtet historischer Wahrheiten gerät Kritiker Erskine unter Druck. Es geht um seine Würde und um seine Rente. Außerdem muss er eine stattliche Wohnung unterhalten – und seinen Ziehsohn Tom (Alfred Enoch), der gleichzeitig sein Lover ist. Da kommt ihm die strauchelnde Schauspielerin Nina (Arterton) mit besten amourösen Beziehungen nach oben gerade recht. Der Kritiker in seiner Not lässt sich auf ein mephistophelisches Spiel ein – er erpresst und intrigiert, um seinen eigenen Arsch zu retten.
Ian McKellen spielt seine Hauptrolle eher mit dem ausladenden Gestus eines großväterlichen Theaterschauspielers, statt mit dem eines schreibenden Intellektuellen. Durchaus eine romantische Vorstellung aus einer Zeit, wo schillernde Künstlerfiguren wie Hector Berlioz oder Großmeister der geziemlichen Bösartigkeit wie Eduard Hanslick in ganz Europa als Kritiker respektiert wurden. So im 19. Jahrhundert. Im hier porträtierten 20. war die geschmäcklerische Sachkunde bereits der materialistischen Analyse gewichen. Beispielsweise des US-amerikanischen Kunstkritikers Clement Greenbergs 1939 erschienener wegweisender Essay »Avant-Garde and Kitsch« liest sich zwar spitzzüngig, scheut aber illustrative Vergleiche mit Tieren und Fäkalien.
Der letzte wohlinformierte Vogel metropolitanischer Gehässigkeit (»bitchy« – eine typisch schwule Angelegenheit) war Truman Capote, den die Society dafür aber nicht achtete, sondern ins gesellschaftliche Grab beförderte. Ähnlich ergeht es dem Kritiker in diesem recht lauwarmen Streifen.
»The Critic«, Regie: Anand Tucker, GB 2024, 101 Min., bereits angelaufen
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