Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 18.03.2025, Seite 11 / Feuilleton
Antifaschismus

Auge in Auge

Sie blieb allem gewachsen: Fragmentarische Erinnerungen an Peggy Parnass
Von Karl-Heinz Dellwo
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Dem Unmöglichen auf der Spur: Peggy Parnass (1994)

Du würdest 100 Leute am Tag beschäftigen, wenn Du könntest!» Den spöttischen Vorwurf hatte Peggy wohl registriert. Aber sie antwortete kühl: «Ja, und?» Man konnte sie nicht überrumpeln. Selbst als sie altersbedingt etwas länger brauchte, hatte sie immer eine originelle Replik.

Sie hätte es in der Tat geschafft, 100 Leute zu beschäftigen. Sie sah es als ihr Recht an, Forderungen zu stellen und nicht klein zu denken. Das Leben war dazu da, alles wissen zu wollen und alles zu tun, um seiner Wahrheit, wenn es dann eine hat, auf den Grund zu gehen, dem Unmöglichen auf der Spur zu sein. Körperlich klein, geradezu zierlich, vor allem aber wegen ihrer radikalen Offenheit, ihre Bereitschaft, auch ihr Innerstes zu entblößen, schien sie immer leicht verwundbar. Doch sie blieb allem gewachsen. So konnte sie etwa Anfang der 80er Jahre mit «­Nazi-Lothar», der ihr auf der Langen Reihe in Hamburg die Pistole unter seiner Jacke gezeigt hatte, in seine Wohnung voller Nazidevotionalien gehen und sich von ihm erklären lassen, dass er sich künftig alle vornehmen werde, die ihn «Nazi-Lothar» nennen.

Radikale Minderheit

Ihr ganzes Leben hat Peggy Parnass – geboren am 11. Oktober 1927 in Hamburg, gestorben am 12. März 2025 ebenda – die Frage umgetrieben, warum Menschen anderen Gleichheit und Existenzrecht absprechen, statt grundsätzlich von Solidarität auszugehen. Klären lässt sich das wohl nicht, doch personifizierte die «kleine radikale Minderheit», als die Peggy bei Demonstrationen und Veranstaltungen oft auftrat, die Reaktion darauf. Sie hat auch mit Michael Kühnen zusammengesessen, dem schwulen, intelligenten Neonazi, der ihr gegenüber reserviert freundlich blieb und natürlich an seiner Rassenideologie festhielt. Sie hat aus Prozessen berichtet wie dem gegen den SS-Standartenführer Ludwig Hahn, den Massenmörder von Warschau, der lange Jahre aus «gesundheitlichen Gründen» geschont wurde und von dem sie in den Prozesspausen auf dem Flur heftig angepöbelt wurde.

Eine der Angeklagten im dritten Majdanek-Prozess 1975 hieß Hildegard Lächert, sie war auch in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Auschwitz Aufseherin. Eine exzessive Sadistin. Die Häftlinge nannten sie «krwawa Brygida», «blutige Brigitte». Nach dem Krieg wurde Lächert BND-Mitarbeiterin und war nebenbei auch für die CIA tätig – sie konnte mit Recht davon ausgehen, nicht belangt zu werden. Sie wurde Mitte der 70er Jahre zwar in Düsseldorf vor Gericht gestellt und wegen Beteiligung am Massenmord zu zwölf Jahren Haft verurteilt, musste aber nie ins Gefängnis. Die bundesdeutsche Justiz sah die Strafe als abgegolten an, da Lächert nach dem Krieg neun Jahre in Polen inhaftiert war.

Es gibt ein Foto, das fast schon ikonografisch ist, weil es die Verhältnisse in der Nachkriegs-BRD verdeutlicht: Hildegard Lächert auf der Anklagebank, den Kopf nach unten gebeugt, vor sich ein Dutzend Fotografen und Kameramänner, die das Monster in Person abbilden – ein mediales Schauspiel und Sinnbild einer Gesellschaft, die nur das Spektakel sehen will, nicht wissen, was dahinter steckt. Die Szene ist von schräg hinten aufgenommen, deshalb sieht man, wie eine Frau vor dem Tisch kniet und versucht, Lächert in die Augen zu schauen. Diese Frau ist Peggy Parnass.

Der Ruhepol

Sie ist der Ruhepol in dem Spektakel. Sie, die die Schoa überlebt hatte, wollte Lächert in die Augen sehen, um etwas zu erkennen, was eine Erklärung hätte bieten können für das Grauen und die Niedertracht, als müsse es eine Antwort jenseits des Systems im Persönlichen geben. Peggy weigerte sich, die Selbstlüge der deutschen Mehrheitsbevölkerung anzunehmen, dass es die anderen waren oder das System und dass es keine persönliche Verantwortung gab, kein Interesse und keine Lust. Es ist diese Suche, die Peggys Ansatz von den vielen effekthascherischen Betrachtungen des Verbrechens und der Täterinnen und Täter unterschied. Aber im Gesicht der Lächert war nichts zu erkennen.

Vielleicht wollte sie ihr auch zeigen, dass sie da ist, dass sie der Nazimegäre in die Augen schauen kann. Und dass sie nicht nur überlebt, sondern auch etwas Ungeheures für sich besiegt hat. Ein Sieg freilich, der gesellschaftlich nicht existierte, denn in der BRD konnten fast alle Nazis ihre Leben unbehelligt fortführen, nicht zuletzt dank der großen und schweren Anstrengungen der bundesdeutschen Justiz, die Verfahren selbst der offenkundigsten Naziverbrecher so lange verschleppte, wie es nur ging, bis zur Verjährung oder zur Verhandlungsunfähigkeit.

Peggy Parnass hat in dieser Gesellschaft gelebt, zu der sie nie gehören wollte. Ihr wurden am Ende viele Ehrungen zuteil. Doch sie konnte das Erlebte nicht wegwischen und wusste: Diese Gesellschaft, die sich so oft als ach so demokratische rühmt, steht auf sehr dünnem Boden.

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