Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Dein roter Faden in wirren Zeiten
Aus: Ausgabe vom 19.03.2025, Seite 10 / Feuilleton
Rolf Dieter Brinkmann

Zur Wehr setzen

Zwischen jungen Klugscheißern. Brinkmanns Brandflecken
Von Frank Schäfer
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So sah der also aus: Dauerausstellung über das Leben Rolf Dieter Brinkmanns in seiner Heimatstadt Vechta (2019)

Man muss wohl einen Zusammenhang annehmen zwischen der familiären Tragödie und seinem schulischen Scheitern. Im nachhinein kontaminiert diese gefühlte Niederlage alle Erinnerungen an die Schulzeit. Noch in seinen Aufzeichnungen aus den siebziger Jahren bricht sich eine kompensatorische Wut Bahn. »Ich habe oft gedacht, daß man die Erwachsenen totschlagen müßte«, erinnert er sich in »Rom, Blicke«, »ich habe den Lehrern Knochenbrüche gewünscht, ich habe ihnen das Dreckigste, was man sich vorstellen kann, an den Hals gewünscht – ich bin von Krüppeln erzogen worden mit Krüppelvorstellungen! Und ich musste mich gegen eine Überzahl von Krüppeln verteidigen, zur Wehr setzen!« Einmal mehr die Opferimago, aus der er sich seine Legitimation zum Rebellieren holt.

Bei den ehemaligen Schulfreunden und Schülern der jüngeren Jahrgänge erwirbt er sich einen legendär schlechten, also guten Ruf als vorlauter, renitenter Klassenkasper und Störenfried, einer, der sich nichts bieten lässt, der aufmuckt gegen die katholisch-vermuffte Abrichtung durch eine überalterte Lehrerschaft. In der schönsten Anekdote, die man sich über ihn erzählt, lässt er einen Lehrer, Doktor der Theologie, auflaufen, der ihnen in Sexualkunde, damals noch Teil des Katechismusunterrichts, die Folgen der Selbstbefleckung vor Augen führt, Rückenmarksschwund und Sehschwäche natürlich. »Herr Studienrat«, soll er gesagt haben, »einer von uns beiden trägt eine Brille – ich bin’s nicht!« Und angeblich soll er es dann noch mit der Frage auf die Spitze getrieben haben, wie häufig der Herr Doktor dergleichen denn am eigenen Leib vollziehe. Ob das alles so stimmt, ist gar nicht so wichtig, es geht um die Pose, die auf seine späteren Vorstellungen als Extremwüterich vorausweist.

Eine andere Reaktion auf den beengend empfundenen Schulalltag, neben dem Renegatentum, ist die Flucht. Brinkmann schwänzt den Unterricht, wie so viele Pubertanden zu allen Zeiten. Und er entdeckt die Literatur als Refugium. Er schließt sich der schulinternen Literatur- und Theater-AG »Rhetorica Vechtensis« an und reüssiert schon bald als Beckmann, die Hauptfigur in Wolfgang Borcherts »Draußen vor der Tür«. Das passt fast schon zu gut.

Borcherts Hauptwerk, dessen Uraufführung der kranke Autor nicht mehr erlebt, ist eines der erfolgreichsten Theaterstücke der vierziger und fünfziger Jahre, und das liegt vor allem an seinem Identifikationspotential für die deutsche Nachkriegsgesellschaft. Dieser monologisierende Kriegsheimkehrer, der sich nach dreijähriger Gefangenschaft nicht zurechtfindet in Nachkriegsdeutschland, spricht ihnen aus der Seele, denn er bittet nicht um Vergebung, er klagt an. Beckmann träumt schlecht von den Toten, die er auf dem Gewissen hat, reflektiert aber an keiner Stelle seine eigene moralische Verantwortung. Schuld sind immer die anderen. Der Oberst, der den Befehl gegeben, Gott, der die Welt im Stich gelassen hat. »Draußen vor der Tür« ist das Stück, das die Deutschen zu Opfern macht. Und eben nicht nur die Elterngeneration. In seinem Unbehagen und in seiner larmoyanten Klage über die Zeit und das Dasein können sich auch die Jüngeren wiederfinden – und so einer wie Brinkmann, der sich selbst als randständiger Loser und Rebell wahrnimmt, erst recht. Noch Tage nach der Aufführung läuft er mit Beckmanns Soldatenmantel durch Vechta.

Zur gleichen Zeit beginnt er selbst mit dem Schreiben. Er liest Sartre, Camus, Heidegger und die entsprechende Sekundärliteratur und gießt das Halbverstandene in Exzerpte, aus denen er dann in den Sitzungen der »Rhetorica Vechtensis« vorträgt und meistens harsche Kritik erntet. Vor allem von den Frömmlern in der AG, die im Existentialismus nicht zu Unrecht eine konkurrierende Religion erkannten. Diese Vorträge sind erste, wie meistens eher gewollte als gekonnte Profilierungsversuche, es kommt zu Hahnenkämpfen zwischen den jungen Klugscheißern der AG, die sich aneinander reiben und ihren Esprit aneinander ausprobieren.

Erstaunlich ist das enorme Lektürepensum, das sich Brinkmann auferlegt. Hier hat er endlich etwas, das ihn wirklich herausfordert, für das er brennt. Und der Existentialismus mit seiner Konstruktion des »Poète maudit«, des moralisch fragwürdigen, außerhalb der Gesellschaft stehenden Dichters, offeriert ihm auch ein Rollenmodell, mit dem er sich leicht identifizieren kann.

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