Rotlicht: Sozialabbau
Von Christian Stappenbeck
Aus gutem Grund kürte die Gesellschaft für deutsche Sprache »Sozialabbau« zum Wort des Jahres 1993. Richtiger gesagt: aus schlechtem Grund. Denn mit den beginnenden 1990er Jahren läuteten die Marktradikalinskis nach dem Wegfall der systemischen Konkurrenz sozialistischer Staaten Europas den Rückbau des bundesdeutschen Sozialstaates ein. (Im angelsächsischen Bereich hatten Margaret Thatcher und Ronald Reagan schon früher damit begonnen.) Das bedeutete Deregulierung, Privatisierung, Leistungskürzung und Niedriglohn. Anders gesagt: Die Regularien zum Schutz von Beschäftigten, zum Beispiel der Kündigungsschutz, wurden aufgeweicht. Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge und der Infrastruktur überließ man der Profitmacherei. Minijobs und Hartz-4-Gesetze drückten auf die Löhne und lähmten die Gewerkschaften. Fazit: Die gesellschaftlichen Kosten der Privatisierung werden der Allgemeinheit aufgebürdet – Verluste werden sozialisiert, Gewinne privatisiert.
Sozialabbau ist Klassenkampf von oben. Kapital gegen Lohnarbeit. Der Oligarch Warren Buffett formulierte es 2006 – erstaunlich offen für einen Kapitalisten – mit den Worten: »Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt; und wir gewinnen.« Diese dankenswerte Offenheit ist selten. Zumeist werden die Tatsachen mit Hüllworten verbrämt.
»Sozial« hat seit zwei Jahrhunderten einen guten Klang. So fühlten sich auch Gegner des »Sozialklimbims« genötigt, sich damit zu schmücken. Als Beispiel sei der Name der mächtigen Industrielobbygruppe INSM genannt, mit vollem Namen »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft«. Ein Gründungsmitglied ihres Fördervereins war Friedrich Merz. Ihr strategisches Ziel ist es, den Sozialstaat zu beseitigen, Steuern für Konzerne zu senken, den Mindestlohn zu »canceln«, Ausgaben für Bildung, Gesundheit, Klima zu minimieren etc. Ein anderes beschönigendes Hüllwort für Sozialabbau ist »Reform« (Arbeitsmarkt-, Renten-, Steuerreform). Das Wort war ja historisch positiv konnotiert. Nachdem es die neoliberale Propaganda okkupiert hat für eine Politik weitreichender Eingriffe in die solidarischen Sicherungssysteme, wurde es zu einem Popanz.
Der Inhalt des Begriffs »sozial« hat seit dem 19. Jahrhundert verschiedene Ausprägungen erhalten. Das erste Bedeutungsfeld: sozial – das ist gemeinschaftsbezogen, das Ganze betreffend. Von daher kommen das Sozialprodukt und die Sozialisierung nach Artikel 15 des Grundgesetzes (»Überführung in Gemeineigentum«). Von anderem Inhalt ist das zweite Feld: sozial – das ist klassenbezogen, die Struktur und Standesgliederung betreffend. Davon abgeleitet: die soziale Frage (Verarmung, Ausbeutung, Existenzunsicherheit) und die sozialen Kämpfe. Aus einer Engführung dieser zweiten Bedeutung ergab sich eine rein einkommensmäßige Begrifflichkeit, wenn von Sozialhilfe gesprochen wird oder von Sozialauswahl bei Entlassungswellen.
Vor 140 Jahren entstanden mit der Bismarckschen Sozialgesetzgebung, um die Arbeiterklasse zu besänftigen, die Anfänge einer obligatorischen Sozialversicherung mit Beteiligung des Kapitals. Das konnte August Bebel als Erfolg seiner Partei verbuchen. Am heutigen Rückbau des Sozialstaates sind seine Nachfolger in der ehemaligen Arbeiterpartei SPD führend beteiligt.
Unter einem Kanzler Merz – sein Lobbyverein INSM hat zu den Wahlen wieder groß plakatiert – wird der Sozialabbau fortgesetzt werden, zugleich mit rasant steigenden Rüstungsausgaben, zum Nutzen von Rheinmetall und Co. Die SPD wird eifrig mittun. Nebenbei gesagt: Kanzler Friedrich M. sollte daran erinnert werden, was der preußische König Friedrich II. 1779 im Gespräch mit dem französischen Professor Dieudonné Thiébault äußerte: »Von allen Klassen von Spitzbuben scheinen mir die Heereslieferanten am raubgierigsten und gefährlichsten.«
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