Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 19.03.2025, Seite 11 / Feuilleton
Ballett

Von Treue und Untreue

Das Stuttgarter Ballett bleibt sich in jeder Hinsicht treu
Von Gisela Sonnenburg
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Auf der Bühne sterben: Yana Peneva (Kitty) und Matteo Miccini (Lewin) in John Neumeiers »Anna Karenina«

Es ist ein Ritual im Ballett: Nach einer besonderen Aufführung wird ein Solist zum »Principal«, also zum Ersten Solisten, ernannt. Vergangenen Freitag, nach der Premiere von »Anna Karenina« beim Stuttgarter Ballett, betraf dieses Glück den smarten Italiener Matteo Miccini. Ballettintendant Tamas Detrich schwang im Rangfoyer das Mikrofon: »You will be a principal!« (»Du wirst jetzt Erster Solist sein!«) Doch trotz der freudigen Anlässe trugen der Nachwuchsstar und sein Boss auf der Premierenfeier tiefes Schwarz: zum Zeichen der Trauer um die kürzlich verstorbene ehemalige Stuttgarter Ballettmeisterin Andria Hall.

Ums Sterben ging es zuvor auch auf der Bühne, bei der Stuttgarter Premiere des 2017 in Hamburg uraufgeführten Balletts »Anna Karenina« von John Neumeier. Choreograph Neumeier verlegte die von Lew Tolstoi ersonnene, ab 1877 stückweise in einer Zeitschrift publizierte Geschichte einer schönen Russin in die Gegenwart. Anna Karenina ist hier im Ballett die Gattin eines umjubelten Spitzenpolitikers. Miriam Kacerova tanzt in Stuttgart mit viel Ausdruck deren Werdegang: Erst geht sie fremd, dann entscheidet sie sich für den Liebhaber – und schließlich, aus Frust und Eifersucht, für den Tod.

Zwar hat man als Frau nach einigen gescheiterten Beziehungen heute bessere Möglichkeiten für das gesellschaftliche Überleben als im 19. Jahrhundert. Aber Neumeier will zeigen, wie Anna in Depressionen und Tablettensucht sowie in hilflose Eifersucht abrutscht. Das Ballett spielt in Moskau und Sankt Petersburg – und zeichnet, grundiert von Musik von Peter Tschaikowski, Alfred Schnittke und Cat Stevens, ein Sittenbild unserer globalen Gesellschaft.

Matteo Miccini, der nach der Premiere Beförderte, tanzt darin die Figur des jungen Landbesitzers Lewin. Der versucht sich als Bauer aus Leidenschaft und findet mit Kitty (Yana Peneva in ihrer ersten großen Rolle) eine leidgeprüfte, aber ergebene und vor allem treu bleibende Gefährtin. Miccini hat starke, moderne Solo- und Paartänze zu absolvieren, was ihm mit Bravour gelingt.

Veränderungen gibt es in Stuttgart allerdings nicht nur auf dem Spielplan und im Ensemble. Ab Januar 2026 wird die der Truppe angeschlossene renommierte Tänzerschmiede der John-Cranko-Schule eine neue Leitung haben: Mit Elisa Carrillo Cabrera kommt eine ehemalige Berliner Primaballerina auf den pädagogischen Thron. Sie hat zwar noch kein einziges tanzendes Kind bis zur Bühnenreife gebracht, genießt dafür aber internationale Bekanntheit. Ihr Heimatstaat Mexiko fördert sie seit Jahrzehnten als wandelndes Aushängeschild. Bis zum Status als Erste Solistin beim Staatsballett Berlin, zum Prix Benois de la Danse, dem »Oscar« des Balletts in Moskau, und zur künstlerischen Leitung eines Ensembles in Mexiko hat es so schon gereicht.

Nach Workshops, Masterclasses und Galas an der Seite ihres umtriebigen russischen Gatten Michail Kaniskin, ferner nach einem Open-Air-Massentraining in Mexiko mit 5.000 Probanden in sengender Hitze, ist Elisa Carrillo Cabrera jetzt auf dem unbefristeten Chefposten angekommen. Ihr Ehemann, der wie sie erst beim Stuttgarter Ballett, dann in Berlin tanzte, wo er auch versuchte, einen Wettbewerb für Tanztalente zu etablieren, wird ihr Stellvertreter an der Schule.

Das Stuttgarter Ballett bleibt sich derweil selbst treu. So flicht der Spielplan regelmäßig Stücke von John Cranko ein, der die Truppe zwischen 1961 und 1983 berühmt machte. Derzeit müssen Cranko-Fans allerdings bis Ende Juli warten: Dann wird wieder »Romeo und Julia« von 1962 getanzt. Es ist ein Klassiker: Eng nach Shakespeare und der Musik von Prokofjew gewebt, verbindet er Herzschmerz und Dramatik mit der politischen Friedensbotschaft.

Wer sich aber schon jetzt dem Leben und Werk von John Cranko hingeben möchte, kann das dank der neuen DVD »Cranko«, also mit dem Spielfilm von Joachim A. Lang, tun. Sam Riley spielt hier passioniert den charismatischen Choreographen und Ballettdirektor. Der gebürtige Südafrikaner Cranko absolvierte zunächst eine erfolgreiche Station auf seinem Lebensweg in London. Doch nach einem polizeilich inszenierten Skandal wegen seiner Homosexualität landete er in der schwäbischen Metropole.

Stuttgart nahm ihn mit offenen Armen auf – und Cranko revanchierte sich mit zahlreichen hochkarätigen Kreationen: von populären Handlungsballetten bis zu kniffligen Thementänzen. Der Film zeigt beide, den Ballettmann Cranko und den privaten John. Zusammen mit den heutigen Stars vom Stuttgarter Ballett entstand ein Biopic mit Tanz, das absolut sehenswert ist. Miniinterviews mit Ballettstars wie Friedemann Vogel und Jason Reilly runden das DVD-Erlebnis ab.

Nur einer der Helden rund um Cranko fehlt im Film: John Neumeier, der unter John Cranko als Tänzer und auch als Choreograph begann. Insofern schließt sich jetzt mit »Anna Karenina«, von der es übrigens auch eine DVD gibt, ein Kreis – wie jedes Mal, wenn Neumeier beim Stuttgarter Ballett arbeitet.

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