»Freiwillige« Vertreibung
Von Knut Mellenthin
Die Zahl der »freiwilligen Ausreisen« aus dem Gazastreifen zeigt nach Angaben der für die besetzten palästinensischen Gebiete zuständigen israelischen Behörde COGAT einen »dramatischen Aufschwung«. Die Buchstaben stehen als Abkürzung für die englische Bezeichnung »Coordinator of Government Activities in the Territories«. Unter Berufung auf COGAT berichtete der israelische Privatsender Kanal 12 am Sonntag, dass seit Anfang März rund 1.000 Bewohner den Küstenstreifen verlassen hätten und mit weiteren 600 in dieser Woche gerechnet werde. Insgesamt seien seit Kriegsbeginn schon 35.000 Menschen »ausgewandert«.
Gegenwärtig dürfen laut Kanal 12 vor allem die Bewohner die von Israel abgeriegelte Enklave verlassen, die eine medizinische Behandlung benötigen, eine doppelte Staatsbürgerschaft besitzen oder ein Visum für die Einreise in ein anderes Land haben. Ein Abkommen zwischen Israel und der Hamas erlaube es, dass jeder Patient, der den Gazastreifen verlassen will, ein Familienmitglied mitnehmen darf. Israel habe sich aber entschieden, eine unbegrenzte Zahl von begleitenden Familienmitgliedern zuzulassen. Palästinenser, die den Gazastreifen verlassen, würden einen Tag vor ihrer Ausreise zu einem Sammelpunkt gebracht, wo sie von Einsatzkräften überprüft würden, berichteten israelische Medien am Montag. COGAT habe den Palästinensern erklärt, dass es nach dem Verlassen des Gebiets keine Rückkehrmöglichkeit mehr geben könnte, aber die »Ausreisenden« hätten ihren Willen ausgedrückt, »ihr Leben zurückzuerhalten« und »ihren Kindern eine andere Zukunft zu bieten«.
Um die »sichere und überwachte Ausreise« aus der Enklave zu erleichtern, soll eine spezielle Institution geschaffen werden, die dem Verteidigungsministerium untersteht. Das sei im Sicherheitskabinett beschlossen worden, gab Minister Israel Katz am Sonntag bekannt. Die neue Behörde wird den Namen »Büro für die freiwillige Auswanderung von Bewohnern Gazas, die am Umzug in Drittländer interessiert sind« tragen. Er werde demnächst seinen Kandidaten für die Führung dieser Leit- und Koordinationsstelle benennen, kündigte Katz an.
Israelische Medien hatten in der vorigen Woche Ergebnisse einer Umfrage des internationalen Gallup-Instituts unter Bewohnern des Gazastreifens veröffentlicht. Demzufolge würden 38 Prozent der Befragten einer vorübergehenden Umsiedlung zustimmen, weitere 14 Prozent seien an einem dauerhaften »Umzug« interessiert, und vier Prozent möchten gern Familienmitglieder ins Ausland schicken. Unter den Zielländern liegt nach dieser Untersuchung, für die 532 Menschen befragt wurden, Deutschland mit 13 Prozent, die gern dorthin emigrieren würden, an erster Stelle, gefolgt von Ägypten, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten.
Allerdings hat sich bisher noch kein Staat bereit erklärt, bei der von den Zionisten als »freiwillige Ausreise« deklarierten Vertreibung der Palästinenser mitzuwirken. Ägypten hat am Wochenende Falschmeldungen dementiert, dass Präsident Abdel Fattah Al-Sisi der Ansiedlung von einer halben Million Menschen aus dem Gazastreifen im Norden der Sinaihalbinsel zugestimmt habe.
Auch im besetzten Westjordanland treibt der zionistische Staat seine Expansion voran. Das Sicherheitskabinett billigte am Sonntag einen offenbar vom extrem rechten Finanzminister Bezalel Smotrich stammenden Plan, dort 13 neue jüdische Siedlungen zu schaffen, indem diese von den Gemeinden getrennt werden, zu denen sie bisher gehörten. Ihre Anerkennung als »unabhängige Siedlungen« sei »ein wichtiger Schritt, der ihr Vorankommen und ihre Entwicklung in hohem Maß unterstützen« werde, kommentierte Smotrich die Entscheidung. »Wir fahren fort, in den Siedlungen eine Revolution der Normalisierung und Regulierung durchzuführen. Statt uns zu verstecken und zu entschuldigen, hissen wir die Flagge, bauen und siedeln.« Nach offiziellen Angaben leben in der Westbank und Ostjerusalem gegenwärtig 700.000 jüdische Israelis neben 2,7 Millionen Palästinensern.
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