Radical Chic oder die höfliche Revolution
Von Carmela Negrete
Marco Bülow hat Glück. Pate bei der Vorstellung seines Buches »Korrumpiert. Wie ich fast Lobbyist wurde und jetzt die Demokratie retten will« am Dienstag im Pfefferberg-Theater in Berlin ist sein Parteifreund Martin Sonneborn, und der Politiker und Satiriker nimmt nicht viel ernst – vermutlich auch nicht die Omnipotenzphantasien, von denen Bülows Buchtitel zeugt. Der studierte Historiker und Politikwissenschaftler, der für die SPD 17 Jahre im Bundestag saß, abgesehen von zwei fraktionslosen Jahren nach seinem Austritt 2018, beschwert sich über die fehlende Arbeiterklasse im Bundestag, auch wenn er sie nicht als solche bezeichnet.
»Korruption ist gang und gäbe im Bundestag«, erzählt Bülow und geht ins Detail, wie Einflussgruppen die Abgeordneten mehr oder weniger kaufen würden. Es gehe meistens nicht einmal um Koffer oder Kinderwagen voller Geldscheine, sondern eher um kleine Gefälligkeiten. Mal wird man zu einem Vortrag eingeladen, zu einer Reise oder zu einem Abendessen in einem schicken Hotel mit Diener und Haube. Ein anderes Mal bekommt man exklusiv einen Gesetzentwurf. Oft geht es um persönliche Vorteilsnahme im privaten Leben durch die Kontakte, die man in der Politik gemacht hat. Bülow erzählt viele persönliche Anekdoten, mit denen man sich gut vorstellen kann, wie diese Vorteilsnahme funktioniert.
Auch leistet hier der ehemalige Abgeordnete gute Recherchearbeit und listet zum Beispiel die 1.500 Lobbyisten auf, die allein die »Finanzindustrie« auf den Bundestag angesetzt hat. Oder auch berühmte Fälle von Korruption, wie den Fall von Georg Nüßlein, einem ehemaligen Bundestagsabgeordneten der CSU, der 2021 in einen Maskendeal involviert war, der Abgeordnetenbestechlichkeit beschuldigt wurde und schließlich zurücktrat. Bülow beklagt die oft fehlende juristische Verfolgung solcher Korruptionsfälle. Sonneborn hingegen, der als Europaabgeordneter von Die PARTEI bereits mehr als zehn Jahre in Brüssel sitzt, sagt, dass er das einzige Mal, als er bestochen werden sollte, »leider zu betrunken war«.
Bei derart düsteren Szenarien dürfen die Ratschläge, wie man es besser machen kann, nicht fehlen. Bülow spricht von einer »kooperativen Demokratie«, die auf »Bürgerräten« basiert, sowie von einer »permanenten Revolte«. Man müsste, so Bülow, nach dem Zufallsprinzip Bürger auswählen, die dann diese Räte bilden würden. Ein Verhaltenskodex für Abgeordnete und die gesetzliche Beschränkung von Nebentätigkeiten wären ebenfalls hilfreich. »Historisch betrachtet konnten meist nur Revolutionen eine eingefleischte Machtelite stürzen, und selbst das nur für kurze Zeit«, schreibt er. »Demokratie wurde von den Mächtigen nur zugelassen, wenn sie ihre Profite sicherte.« Also »war Demokratie nur in Kombination mit dem Kapitalismus zulässig«. Dazu zeichnete der nun als Journalist arbeitende Expolitiker ein sehr hübsches Diagramm mit seinem »9-Punkte-Plan«, um von der »marktkonformen Fassadendemokratie« zur »kooperativen Demokratie« zu gelangen.
Dabei kann man kaum vermeiden, sich an den Reporter Tom Wolfe und sein Büchlein »Radical Chic und Mau Mau bei der Wohlfahrtsbehörde« (1970) zu erinnern – vor allem an seine Beschreibung der Funktion des Bürokraten bzw. »bürgernahen« Politikers in einer kapitalistischen Demokratie: Sie sind eine Art Puffer (»flak catchers«) zwischen dem unvermeidlichen Unmut des Volkes und jenen, die von niemandem gewählt werden, weil sie ohnehin obenauf sind. Das Lower Class Magazine nennt sie treffend »Deutschlands brutalste Familienclans«.
Denn führte der »9-Punkte-Plan« nicht zu einer doppelten Pein: Nicht nur die Berufspolitiker mit den eigenen Steuern zu finanzieren, damit diejenigen, die sich nicht unbedingt zur Wahl stellen müssen, an der Macht bleiben, sondern auch noch, falls man entsprechendes Pech hat, per Losverfahren als so ein »Bürgerrat« zwangsläufig zum Hassobjekt der unteren Klassen zu werden? Sonneborn spricht sich eher für einen Kompromiss aus: »Eine höfliche Revolution nach dem Ende der Legislaturperiode, um die Diäten nicht zu gefährden.«
Marco Bülow: Korrumpiert. Wie ich fast Lobbyist wurde und jetzt die Demokratie retten will. Westend-Verlag, Neu-Isenburg 2025, 207 Seiten, 20 Euro
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