Erfolgstrunken
Von Reinhard Lauterbach
Der Titel eines berühmten Prawda-Artikels von Josef Stalin lautete »Vor Erfolgen vom Schwindel befallen«. In ihm kündigte er 1930 eine Verlangsamung der Kollektivierung an. Der Titel war Schönfärberei, die verbergen sollte, dass es mit der Kollektivierung langsamer gehen musste als zuvor geplant – und von Stalin selbst angetrieben –, weil sonst die Lebensmittelversorgung des Landes zusammengebrochen wäre. Eine erzwungene Maßnahme musste als Erfolg verkauft werden.
Was Wladimir Putin jetzt in Murmansk zum Ukraine-Konflikt erklärt hat, zeugt nicht von dem kühlen Kopf, der dem hohen Norden angemessen wäre. Den demnächst bevorstehenden Zusammenbruch der ukrainischen Streitkräfte anzukündigen zeigt deutliche Zeichen von Selbstüberschätzung. Ob Putin seine Zuversicht auf die nach knapp acht Monaten erreichte Rückeroberung von 1.100 Quadratkilometern des Kursker Gebiets in diesen Tagen stützt – vielleicht. Aber aus diesem unter schweren Verlusten erreichten und mit offenbar flächendeckenden Zerstörungen erkauften Erfolg so weitreichende Folgerungen zu ziehen – da muss man sich fragen, ob der russische Präsident hier wieder in die schon 2022 offenstehende Falle zweckoptimistischer Prognosen getappt ist. Auch damals schon hatten ihm seine Dienste den angeblich in Tagen erreichbaren Zusammenbruch des Gegners vorausgesagt. Hierarchische Systeme, wie auch der russische Staat eines ist, tendieren dazu, dass nachgeordnete Dienststellen das nach oben melden, von dem sie erwarten, dass es dort gefällt. Dafür, dass bei manchen in Moskau solche Selbsttäuschungen grassieren, spricht der Umstand, dass vor kurzem der Ideologe der russischen Ukraine-Politik vor 2022, Wladislaw Surkow, wieder aus der Versenkung aufgetaucht ist und dem französischen Express ein hurrapatriotisches Interview gegeben hat, in dem er die »gerechte Aufteilung der Ukraine« ankündigte, von der auch die EU »ihren Teil abbekommen« werde – und erklärte, Russland habe keine anderen Grenzen als die, welche ihm (sein) Gott setze. Was soll man dazu sagen?
Dabei gehört zur militärischen Realität des Ukraine-Kriegs auch, dass sich die tägliche Berichterstattung oft liest wie ein zweiter Band von Remarques »Im Westen nichts Neues«. Die schlachtentscheidende Waffengattung sind heute die Drohnen. Sie sind klein, billig und massenhaft produzierbar. Das erlaubt auch der nach allen sonstigen Parametern unterlegenen Seite – hier: der Ukraine –, ihre Nachteile zu kompensieren.
Oder geht das Signal an die russische Öffentlichkeit mit der Aussage, dass der Krieg ja schon »praktisch gewonnen« sei und jetzt mögliche Konzessionen in den Verhandlungen mit den USA politisch zu verschmerzen seien? Dazu passt aber nicht, wie hart Russland in diesen Verhandlungen pokert. Wer so viel fordert und es dann nicht bekommt, steht erst recht blamiert da.
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vom 29.03.2025
»Erfolgstrunken« ist Putin gewiss nicht. Wenn nach drei Jahren Krieg 20 Prozent der Ukraine und rund 50 Prozent der früheren »prorussischen« Oblasti erobert sind, könnte es durchaus, solange sich noch ein Ukrainer zum Dienst an der Waffe verschleppen lässt, nach mathematischer Logik weitere drei bis 12 Jahre dauern bis zum vollständigen Sieg Russlands. Erfolge sehen tatsächlich noch anders aus.
Doch wenn sogar ukrainische Soldaten, die hier in Deutschland bei der Bundeswehr ausgebildet werden, von denen einer im heutigen Deutschlandfunk-Interview berichtet, wie er 2014 als Schüler Briefe »an die Soldaten an der Front« (!) geschrieben habe, heute vor allem von der grenzenlosen Kriegsmüdigkeit der ukrainischen Bevölkerung reden – aber: »wir werden selbstverständlich weiter kämpfen« – dann könnte das Ende, etwa wie im Ersten Weltkrieg ab August 1918 für die kaiserlich-deutschen Truppen, nach vier Jahren, doch weit rascher kommen. Ob Putin da doch mehr weiß als ein Mitarbeiter der jungen Welt? Wir werden es erfahren.