Willy antwortet nicht
Von Peter Merg
Die entscheidende Frage der Leipziger Buchmesse ist nicht, wer die Preise bekommt, ob die Kasse stimmt oder (karriereentscheidend) wer mit wem schlief. Sondern: Kriege ich meine Bahn? Bei einem Ansturm von 96.000 Besuchern allein an den ersten beiden Tagen (2024: 88.000) geht wahrscheinlich jedes Verkehrskonzept in die Knie. Letztes Jahr wurden zum Messeauftakt die Leipziger Verkehrsbetriebe bestreikt, da blieben nur Taxi und S-Bahn. Wahrscheinlich sollte man an den Hallen sicherheitshalber spätestens um 17.15 Uhr das Weite suchen, um nicht wieder den flauschigen Schwanz eines Furykostümträgers in der Nase zu haben, aber das wäre wie in der 70. Minute das Fußballstadion zu verlassen. Ein Mensch braucht Prinzipien.
Die freilich zum Problem werden, wenn die abendlichen Lesungen um 19 Uhr oder 18.30 Uhr beginnen. So geschehen an jedem meiner diesjährigen Messetage. Schon am Donnerstag hatte sich mein Trilemma »Dath oder Maier oder jW-Essen« wegen ewigen Rumgezuckels in einer kapielskivollen Straßenbahn von selbst gelöst. Die Antwort lautete Christof Meueler. Der Mister Miyagi des linken Feuilletons liest vor etwa 20 Leuten im »linxxnet« aus seiner Wiglaf-Droste-Biographie und bringt mir Drostes Lobpreis Leipzigs in Erinnerung: »Schönheit, Freundlichkeit, fast italienisches Flair, Leichtigkeit und Anmut prägen das Gesicht Leipzigs überall dort, wo es die häßlichen Züge der ›Heldenstadt‹ ablegte.« Der Liebreiz wird jedoch saisonal empfindlich geschmälert: »Was an Leipzig unschön ist, bekommt zur Buchmesse massenhaft Verstärkung. (…) Die Korruptionslümmel, Weitwichser und Großlangweiler des literarischen Betriebs, angestammt bei der Frankfurter Buchmesse zuhause und dort allerbestens aufgehoben, sind nun samt und sonders in Leipzig vertreten, auf daß auch diese Messe ein Ort ihrer Unwürde sei.«
Nach der Lesung ist vor dem Kardio, denn wir wollen zur Bahn, weil zum Suhrkamp-Empfang und dann zur Tropenparty (Schlachtruf des ersten Messetages: »Später bei Tropen?« – »Später bei Tropen!« Freitag: »Später im Felsenkeller?« Sonnabend: alle zu kaputt). Bei ersterem führt Christian Kracht seinen Tweedanzug aus, bei Tropen nippt Bela B abseits stehend am Bier. Hätte man Hallo sagen und ein bisschen »Grönemeyer kann nicht tanzen« deklamieren sollen?
Sonnabend bringe ich es, gestärkt von einer noch halbwegs bezahlbaren Bratwurst (5,50 Euro), endlich über mich, beim Gastland Norwegen vorbeizuschauen. Der Stand sieht aus, als hätten die Gestalter zufällige Passanten gefragt: »Was fällt dir zu Norwegen ein?« Erstes Regal: Munch schreit uns an. Zweites Regal, Knausgård. Holz, gedämpftes Licht und ein paar Terrassensofas. Fehlt nur noch ein Fjord. Mein Begleiter kennt sich mit dem im reichen Norwegen nicht eben sorgenfreien indigenen Volk der Samen aus, hier kommen sie nur in Gestalt zweier Kinderbücher vor. Politik hat in einer sozialdemokratisch befriedenden Gesellschaft aus Prinzip abwesend zu sein. Was für die Buchmesse allgemein zu gelten scheint, sieht man vom pflichtschuldig fetten Ukraine-Stand ab. Grzegorz Rossoliński-Liebes maßgebliche Stepan-Bandera-Biografie von 2014 (»Stepan Bandera. Leben und Kult«), die seit Januar endlich auf Deutsch vorliegt, findet man hier natürlich nicht, aber auch am Stand des Wallstein-Verlages müsste ich sie noch mal suchen gehen.
Und am junge-Welt-Stand? Geht der Sammelband zum »Bandera-Komplex« gut weg, wie die Zeitung generell. Natürlich kein Vergleich zu den goldenen Zeiten in den Nullerjahren, als noch alle gedruckte Zeitungen lasen, meint ein erfahrener Kollege, aber gerade gemessen an den Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit ist das Interesse an Probeabos groß. Der Cuba-Libre-Empfang am Freitag ist der gewohnte Publikumsmagnet, doch auch als am Sonnabend um 17 Uhr Verlagsleiter Sebastian Carlens und Chefredakteur Daniel Bratanovic über die prekärer werdenden Bedingungen für kritischen Journalismus sprechen, bildet sich eine Traube um den Stand. Der anschließend ausgeschenkte Riesling Hochstadter Roter Berg findet Anklang.
Zurück in Halle vier blättere ich in einem neuen Band der brav liberaldemokratischen Kinderbuchreihe »Little people, big dreams«, der dem (Jüngeren höchstens als der verschrobene Typ neben Apache 207 geläufigen) Rockpoeten Udo Lindenberg gewidmet ist. Kinderlieb scheint er auch zu sein: Als Junge erhielt mein Begleiter einmal einen Anruf von Udo, mit dem sein Vater, ein Musiker, damals an einem Projekt arbeitete und meinte, der Bub freut sich. Der brachte völlig überfordert keinen Ton heraus, weshalb das etwa einminütige Gespräch streng genommen ein Monolog war, bevor mein Begleiter auflegte. Udo-Kenner Christof, der uns in die Arme gelaufen ist und soeben beim Börsenverein des deutschen Buchhandels gelernt hat, dass es unter deutschen Schriftstellern genau 30 Einkommensmillionäre gibt, die den Vorschussschnitt schönen (3.500 Euro), kontert mit seiner besten Willy-Brandt-Anekdote: Jung-Christof war von seinem Vater (SPD) angehalten worden, dem Kanzler ein Bild zu malen. Was dieser gemäß seiner künstlerischen Fähigkeiten tat und nach Bonn schickte. Willy antwortete nicht, dafür gab es einen Schrieb aus dem Sekretariat und eine Autogrammkarte, die fortan über Christofs Bett hing. Bis eines unseligen Nachmittags die Mutter bei der Lektüre der Frankfurter Rundschau ausstieß: Der Brandt ist ein Idiot! Ob mehr aus Scham oder vom Mutterhass übermannt, lässt sich heute nicht mehr abschließend klären, jedenfalls rannte der Junge ins Zimmer und zerriss bebend die Karte. Zugleich sein Bruch mit der Sozialdemokratie.
Neben uns steht eine lange Schlange junger Leute, zumeist Mädchen. Sie haben sich im Internet verabredet, genau hier und heute, zu dieser Stunde ein bestimmtes, im freien Handel erhältliches und in keinster Weise exklusives Buch zu erwerben. Ein Happening. Ich erhasche den Titel nicht, aber einen Blick aufs Cover. Es schreit Young Adult/New Romance, also der vollformatierte Kram, der gerade den Buchmarkt rettet. Nachher werde ich mit ihnen wieder dicht an dicht in der Tram stehen, und doch trennen uns Welten. Nicht zum ersten Mal auf dieser Messe fühle ich mich sehr alt.
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