Good Vibrations
Von Peter Merg
Dies ist nach neun Jahren das sechste Mal, dass ich mit journalistischem Auftrag zur Leipziger Buchmesse fahre, und, ei der Daus, wo mussten wir nicht alles durch: das routinierte Betriebsgenudel zwischen Kindern in Hogwards-Mänteln, die dunklen Zeiten der Querelen um rechte Verlage und die zappedusteren der Coronajahre mit ihren Pop-up-Messen und Geheimlesungen, schließlich die vielgefeierte Wiedergeburt und der beargwöhnte Leitungswechsel. Also endlich wieder alles normal?
Nicht so ganz, es ist irgendwie voller hier. Als ich mich am Donnerstag vormittag kurz nach Messeöffnung Richtung Halle 5 schiebe, ist trotz aller Routine im Besucherslalom kaum ein Durchkommen. Noch mehr Schulklassen, Frühbucher und Manga-Kiddies, nur dass ich die Kostüme der Cosplayer nicht mehr erkenne. Man wird alt. Auch bei den unabhängigen Verlagen ist schon einiges los, offenkundig nicht nur, weil man sich jetzt die Halle mit den Kinderbuchverlagen teilt. Allenthalben gute Laune bei Bahoe, bei Mandelbaum, bei Nautilus, bei den Verbrechern. Nur Irina Rastorgueva findet nicht zu ihrem Interviewtermin, viel zuviel los, und wo ist das verdammte Pressezentrum? Ich helfe gerne – immer den Gang runter, aber Ellenbogen ausfahren, es warten zwei Hallen des Schmerzes.
Kaum stehe ich am eigenen Stand, verwickelt mich ein junger Mann mit Zahnspange in ein Gespräch über Mainstream- und Alternativmedien und darüber, was 500 Milliarden für die Infrastruktur mit Hochrüstung zu tun haben, was nahtlos übergeht ins Abwägen des Für und Wider der Printzeitung mit einem Seniorenpaar. Glenn Jäger von Papyrossa lobt derweil den großen zivilisatorischen Fortschritt der neuen Kaffeemaschine, und was läge da näher, als bei Barbara Kalender Kippen schnorren zu gehen.
Denn noch immer gilt das von Harry Rowohlt aufgespießte Diktum: Die eigentliche Buchmesse findet außerhalb der Buchmesse statt. Nur nicht mehr in der Galerie Artae, die über 20 Jahre die heißgeliebten Frühschoppenlesungen mit Thomas Kapielski und anderen der letzten Literaten dieses auf den Hund gekommenen Zeitalters ausgerichtet hat. Ein herber Verlust. Aber auf Barbara ist immer Verlass. Ist die auffällige Ausgeglichenheit der Kollegen mit LSD-Microdosing zu erklären? Barbara rät zum Absetzen der Sonnenbrille, das fördere die Vitamin-D-Aufnahme. Spart Geld, ist völlig legal und hat den Vorteil, dass der Schnee nicht plötzlich blau ist und man im tiefsten Winter keine Meisen singen hört. Vincent Sauer hat endlich sein Trauma überwunden, vor Jahren von mir als »Tausendsassa« vorgestellt worden zu sein. So zuschreibungsavers ist die Jugend. Er bekommt von mir umgehend die Kassette aufs Ohr gedrückt, mit der ich seit Tagen die Kollegenschaft quäle: Heute (i. e. Donnerstag) abend lesen parallel Dietmar Dath und Andreas Maier aus den besten Romanen des Frühjahrs, während die jW-Mannschaft essen geht. WAS SOLL ICH BLOSS TUN?
Vincent ignoriert mein Gegreine und deduziert aus dem Stand die Preisvergabe: Christian Kracht und Wolf Haas sind super, aber verkaufen sich eh, Leipzig prämiert immer etwas abseits des Mainstreams. Cemile Sahin ist zu verschroben, Esther Dischereit »pro Palestine«, bleibt Kristine Bilkau – für ihren Roman »Halbinsel« dann tatsächlich die Gewinnerin. Ich kontere weit weniger beeindruckend: Der Europäische Verständigungsklimbim geht zuverlässig an wen Antirussisches (2025: Alhierd Bacharevič, Belarus, »Europas Hunde«), aber wegen der Trump-Reprise muss auch beim Sachbuch wieder Farbe bekannt werden, ergo hat Rastorguevas »Pop-up-Propaganda. Epikrise der russischen Selbstvergiftung« gute Chancen und gewinnt selbstverständlich. Selbst Taylor Swift würde hier nicht leer ausgehen. Wenn noch der »Man soll ich immer gleich Faschismus sagen«-Mensch den Übersetzerpreis bekommt, wäre das eine große harmoniemechanische Leistung, rühmt Vincent. Seinesgleichen geschieht. Thomas Weiler kriegt den Preis. »Wenn’s nach mir geht, muss Taylor Swift gar keinen Preis bekommen, nicht mal den der Leipziger Buchmesse«, sagt meine verehrte Vorvorgängerin Conny Lösch und zieht uns Richtung Halle. Vincent und ich beschließen, nächstes Jahr rechtzeitig ein Wettbüro aufzusuchen.
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