Dein roter Faden in wirren Zeiten
Gegründet 1947 Montag, 7. April 2025, Nr. 82
Die junge Welt wird von 3005 GenossInnen herausgegeben
Dein roter Faden in wirren Zeiten Dein roter Faden in wirren Zeiten
Dein roter Faden in wirren Zeiten
Aus: Ausgabe vom 01.04.2025, Seite 11 / Feuilleton
Theater

Monster am laufenden Band

Holy Shit: Oliver Frljić inszeniert »Frankenstein« am Maxim-Gorki-Theater Berlin
Von Sabine Lueken
11.jpg
»Phantastische Bilder tauchten ungebeten auf und erreichten einen selten hohen Grad von Lebendigkeit«

Nächste Aufführung: 12.4.

Wie viele Morde gab es auf der Bühne? Am Ende wünschte man sich, man hätte mitgezählt. Auf solche Gedanken konnte man nach 80 Minuten Konfusion und Leere bei maximalem Anspruch in der »Frankenstein«-Adaption des Gorki-Theaters schon kommen. Drei Erzählstränge werden zusammengenäht wie das Monster von seinem Schöpfer Frankenstein: die Mutter- und Weltschmerzklage des »Alter Ego« (»Ich wünsche Deutschland einen langsamen und schmerzhaften Tod – die Art von Leid, die es so vielen anderen zugefügt hat«), die Biographie Mary Shelleys, der Erfinderin des monströsen Duos, sowie Teile ihres Romans im Originalwortlaut der Übersetzung von Heinz Widtmann (1908).

Das Stück startet mit Marc Benner als »Alter Ego« des Regisseurs Oliver Frljić, der dank eines T-Shirts mit seinem Konterfei kenntlich wird. Ihn plagt sein schlechtes Gewissen, weil er seine krebskranke Mutter in einem Pflegeheim in Zagreb untergebracht hatte, um in Berlin eine »Frankenstein«-Inszenierung vorzubereiten. Die Mutter starb, er erlitt er einen Zusammenbruch, die Premiere wurde abgesagt. Die neue Inszenierung bindet nun den Tod der Mutter ein. »Ich bin mir ziemlich sicher, Mama, dass ich auch eine Art Monster bin – indem ich deinen Tod in eine öffentliche Inszenierung verwandle, in ein Objekt kulturellen Konsums und der Unterhaltung.« Kunst als Schmerzbewältigung, Trauerarbeit? »Indem ich deinen Tod hier auf der Bühne verkaufe. Und für welchen Preis?! Deutsche Emotionen.« Voller Verachtung spricht er das ins Publikum, steigert sich später zu: »Fuck you, fuck you, fuck all of you! Entschuldigt, dass meine Mutter nicht zu dem richtigen Zeitpunkt gestorben ist! Fuck this theatre, fuck the Maxim Gorki!« Die Welt dringt ein ins Theater.

Danach trifft »Alter Ego« auf eine Verkörperung der Verfasserin des Romans, Mary Shelley persönlich. Kate Strong, aktuell auch am Burgtheater Wien tätig, gibt sie – großartig – als aasig-coole Alte im viktorianisch anmutenden Tüllkostüm mit Punkerstiefeln. Es wird angedeutet, dass sie das Monster 1816 erdachte, weil sie ein Jahr zuvor ihr erstes Kind verloren hatte, womöglich sogar selbstverschuldet (es war eine zwei Monate zu früh geborene Tochter, die nach wenigen Tagen verstarb, jW). Jetzt noch ein bisschen Biographisches über Mary Shelley, ihre Eltern (das Schriftstellerpaar Mary Wollstonecraft und William Godwin) und ihren Ehemann Percy Bysshe Shelley, dann geht’s zum gruselstummfilmmäßig inszenierten Schauermärchen, das auf einem gesteppten Chesterfield-Ledersofa beginnt, plaziert vor einem handgeschriebenen, ledergebundenen, aufgeschlagenen Buch (Bühne Igor Pauška).

Erst stirbt die Mutter, dann der kleine Bruder William (Aithonas Avgoustakis), getötet von Frankensteins Kreatur. Für die Hausdienerin Justine Moritz (Via Jikeli für die erkrankte Nairi Hadodo) steht schon ein kleiner Galgen bereit, an dem sie anschließend – zu Unrecht des Mordes bezichtigt – aufgeknüpft wird. Frankenstein (Hannah Müller) heiratet Eli (Doğa Gürer), der Priester steckt sich bei der Trauung ein Mikrophon als Penis zwischen die Beine, irgendwie kommen auch Kondome ins Spiel. Die in Punk-Rave-Gothic und Schlachterschürzen gekleideten Schauspieler (Kostüme Katrin Wolfermann) purzeln unübersichtlich durcheinander, Kate Strong alias Mary Shelley übernimmt dabei den Part des Monsters. Weitere Verwirrung stiften Geschwisterliebe und mehrfacher Rollentausch, der die Doppelgängerstruktur und Figurenspiegelung der Originalvorlage aufgreift.

8. Mai

Eine riesige Bibel mit der Aufschrift »Holy Shit« gleitet mit Motorgeräuschen und dem Fiepen von Einparkhilfen über die Bühne und wird als Sarg für William aufgeklappt. Dann kommen die »Monsterkinder« ins Spiel, bis schließlich alle mit uniformen riesigen Babypuppenköpfen auf der Bühne zu »There Must Be an Angel« von den Eurythmics herumgeistern. Sind diese großköpfigen, entindividualisierten Gestalten Weiterentwicklungen der menschlichen Spezies, wie sie der Theaterzettel für einen bereits dominanten Posthumanismus avisiert?

Noch echt human war hingegen die Zeugung des Sohns Ludwig bei einer Live-Kunstperformance von »Jeff Koons, the king of kitsch capitalism, and Ilona Staller Cicciolina, porn-star-politician from Hungary«, von der Shelley erzählt. Doch warum eigentlich?

Das Monster ist nacheinander der Lungenkrebs, eine Metapher für Deutschland, Frljićs Inszenierung als solche, Frljić als Figur in den Augen der Mutter, der Monsterschöpfer Frankenstein, Gott. Und natürlich der Mensch. Mensch sein bedeutet, ein Monster zu sein, weiß Frljić auf dem Programmzettel. Aber das reicht noch nicht: »… Frankenstein, ein perfektes Projekt für Deutschland. Wir nähen die Leichen unserer Opfer zusammen, um die eigene Zukunft zu erschaffen.«

Ein letztes Farewell: »Ersucht’ ich dich, o Schöpfer, mich aus Lehm zu einem Menschen zu schaffen? Bat ich Dich, aus ew’ger Nacht Mich zu erheben?« Mary Shelley stellte dieses Zitat, die Beschwerde des biblischen Adam aus dem zehnten Buch von John Miltons Versepos »Paradise lost«, gleichsam als Anklage des Monsters der ersten Fassung ihres Romans voran. Frljić lässt die Verse von »Alter Ego« sprechen, bevor er sich am Schluss zu »Suicide Is Painless«, dem Titelsong der Fernsehserie »M*A*S*H«, auf der Bühne umbringt. Eine rote Leuchtkugel, ein Schuss, Ende.

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Probeabo - Der rote Faden