Vor den Toren
Von Felix Bartels
Warum fällt mir immer die Groteske von Böll ein? Bei einem Luftangriff kracht ein Weihnachtsbaum zu Boden, die Tante der Familie hört nicht auf zu schreien, bis er wieder blinkend steht. Fortan muss das ganze Jahr hindurch Weihnachten gefeiert werden. Irgendwie haben wir alle eine solche Tante. Politische Gruppierungen, mithin, ziehen Gestalten an, bei denen man sich fragt, was ausgerechnet die nun in ausgerechnet der verloren haben. Die von der Gesinnung beisammengehaltene Gemeinschaft gerät zum wahnhaften Raum ihres Narrensaums, wird Bett und Dach für Leute, die außer ihr verloren wären, aber im Grunde auch in jeder anderen politischen Gruppe das bekämen, was sie hier gefunden haben.
Gemeinsames Bekenntnis trägt kaum mehr als sich selbst. Tatsächlich geht mit Leuten von der Gegenseite oft besser zu reden als mit jenen, die lediglich der biographische Zufall ins selbe Lager verschlagen hat. Standpunkte sind uninteressant, die hat man selbst. Interessant sind Gründe, die nämlich kennt man noch nicht. Wer sich substantiell mit Gründen des Gegners befasst, lernt über sich, den Gegner und das Gesamtgeflecht. Lernt, »alle Fahrwege des Fortschritts zu erkennen und auf den Schultern selbst seiner Gegner« zu stehen, wie Hacks es formulierte.
Wer sich für Politik interessiert, muss sich für die Elemente politischer Irrationalität interessieren. Für heute zähle ich vier. Erstens, der politische Standpunkt sei bereits selbst intelligibel. Darin wirkt der feste Glaube, schon durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten politischen Gruppe im Besitz der Wahrheit und in intellektuellem Vorteil zu sein. Wähnt man sich in diesem Zustand, scheint weitere Mühe unnötig, Arbeit am Begriff entfällt. Folglich wird, zweitens, jede Frage in eine der Gesinnung verwandelt. Wer differenziert oder gar dialektisch denkt, divergente Wege geht, Schwachpunkte und blinde Flecken in seine Überlegungen integriert, macht sich verdächtig, nicht dazuzugehören. Er wird von den eigenen Leuten der anderen Seite zugeschlagen. Zum dritten nämlich herrscht der Glaube: Weil ich eins bin, sind auch meine Feinde eins. Komplexe Wirklichkeit und ihre pluralen Kämpfe erscheinen zurechtgestaucht in dem einen Punkt der Abweichung von mir. Meine verschiedenen Gegner haben gegeneinander keine ernsten Konflikte, weil sie sich allein dadurch definieren, dass sie meine Gegner sind. Somit gelten für mich, viertens, andere Maßstäbe als für die, über die ich urteile. Weil ich immer schon recht habe, greift der kategorische Imperativ der Politik nicht: Mache deinem Gegner nie einen Vorwurf, den er auch dir machen könnte.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (10. April 2025 um 07:16 Uhr)Über diese Gedanken lohnte es sich, weitergehend zu diskutieren. Muss es wirklich gesetzmäßig so sein, dass man im politischen Zusammenschluss immer auch dem Irrationalen begegnet? Und was ließe sich dagegen unternehmen, wenn doch ausgerechnet Organisiertheit die Voraussetzung dafür ist, dass Menschen ihr Zusammenleben wirklich sozial gestalten können? Die Antworten auf diese Fragen sind eminent wichtig. Weil die Erfahrungen der Vergangenheit zeigen, dass die wirklich sicheren Lösungen für die Zukunft noch längst nicht gefunden sind.
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