Jede Figur hat recht
Von Ronald Kohl
Achtung Berlin« habe ich in diesem Jahr als ein Festival der Tücken zwischenmenschlicher Beziehungen erlebt. Der Eröffnungsfilm nach 80 Jahren Befreiung vom Faschismus heißt »Blindgänger«, Buch und Regie Kerstin Polte. Im Colosseum in der Schönhauser Allee herrscht am 2. April der übliche Rummel: roter Teppich, Blitzlichtgewitter. Der Saal ist proppenvoll. Zufällig setzt sich die Filmemacherin Lucia Chiarla (»Es geht um Luis«) neben mich. Gutgelaunt greift sie in ihre Popcorntüte. Auf meine Frage, was sie von dem Film erwarte, antwortet sie: »Ich habe überhaupt keine Ahnung, worum es geht. Ich erwarte gar nichts. Das ist immer besser.« – »Da kann man nicht enttäuscht werden?« – »Genau.« – »Und im Leben?« – »Im Leben ist es etwas ganz anderes.« Dann geht das Licht aus.
»Blindgänger« spielt in Hamburg. Bei Erdarbeiten wird eine Fliegerbombe gefunden. Hätte sie einen Aufprallzünder, wäre alles kein Problem. Dummerweise ist es einer dieser launischen Säurezünder. Noch bevor sich der oberste Sprengstoffexperte an die Arbeit machen kann, wird bei ihm Krebs diagnostiziert, und er fällt aus. Das ist die langersehnte Chance für seine Assistentin, die jedoch wegen psychischer Probleme eigentlich längst aus dem Verkehr gezogen gehört. Da sie sich hoffnungslos in die Feuerwehrpsychologin verknallt hat, die das auch weiß, wäre die Beurlaubung ein sehr gewagter Schritt. Außerdem ist da noch dieser Orkan, der ausgerechnet jetzt auf Hamburg zustürmt, so dass die Zeit drängt. Als das Licht wieder angeht, sage ich zu Lucia Chiarla: »Es war auf jeden Fall eine kluge Entscheidung, ohne Erwartungen in den Film zu gehen.« Frau Chiarla konzentriert sich weiter auf ihr Popcorn.
In »Die Farbe der Luft« von Oliver Moser bemühen sich drei Geschwister, die Situation in der Villa ihrer verstorbenen Eltern zu entschärfen, doch es nützt alles nichts. Irgendwann platzt die Bombe. Ich weiß, dass das jetzt ein ziemlich plumper Übergang war, gewissermaßen einer mit Aufprallzünder. Egal, entscheidend ist die Wirkung. »Die Farbe der Luft« gehört für mich zu den Highlights des Festivals; ab jetzt rede ich sowieso nur noch über Highlights. Doch zurück zu den drei Geschwistern.
Als Luise (Bea Brocks) in einem dicken Buch schmökert, das ihr der Vater kurz vor seinem Tod dringend ans Herz gelegt hat, fällt dabei plötzlich eine Fotografie heraus. Darauf zu sehen ist Luises große Jugendliebe Sergei. Wenige Stunden nachdem die Aufnahme damals gemacht worden war, kam Sergei bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Luise beginnt zu grübeln: Wer hat dieses Foto geschossen? Warum erfährt sie erst jetzt und auf diesem seltsamen Weg von dessen Existenz? Und war dieser Unfall auch wirklich ein Unfall? Oder war es Suizid? Und wer hat dann Sergei, den Luises Familie so sehr hasste, in den Tod getrieben?
Luise hat nur einen Tag Zeit, diese Fragen zu klären. Schon am nächsten Tag werden die neuen Eigentümer der Villa vor der Tür stehen und den Schlüssel in Empfang nehmen. Und es ist höchst unwahrscheinlich, dass sich die drei Geschwister trotz aller gegenteiligen Beteuerungen danach jemals wiedersehen werden.
Nach der Vorstellung möchte ich von Oliver Moser wissen, woher die Idee für dieses packende Kammerspiel stammt. Der Regisseur, der selbst in einer eher besseren Gegend aufwuchs, erzählt von einem Jungen aus der Nachbarschaft und dessen Freund. Die beiden waren unzertrennlich. Das Problem: Jener Freund wohnte zwar nur zwei Straßen weiter, doch leider in einem Wohnheim für Jugendliche aus schwierigen sozialen Verhältnissen, die bei ihm bereits deutliche Spuren hinterlassen hatten. So wurde der Sprössling der wohlhabenden Familie nach einigem Hin und Her kurzerhand nach England in ein Internat verfrachtet, was ihn zwar vor dem sehr wahrscheinlichen Absturz bewahrte, seinen Freund jedoch endgültig zerbrechen ließ. Auf meine keineswegs zynisch gemeinte Frage, ob die Eltern also richtig gehandelt hätten, antwortet Moser nur zögernd. Linda König, die Drehbuchautorin, eilt ihm zu Hilfe. Sie zitiert den iranischen Filmemacher Asghar Farhadi: »Bei mir hat jede Figur recht.« Moser, der auch Ko-Autor des Scripts ist, relativiert den durchschimmernden Ansatz der Gleichheit: »Was ich herausstellen wollte, ist, dass es Menschen gibt, die das Privileg besitzen, andere ausschließen zu können.«
Der Vorteil, bestimmen zu dürfen, wer wo wie lange dabei sein darf, muss nicht auf Unterschieden in der sozialen Hierarchie basieren. In dem Dokumentarfilm »Familiar Places« begleitet Mala Reinhardt über drei Jahre ihre queere ghanaisch-deutsche Freundin Akosua, deren Ansprüche an das Leben vielfältig sind. In Berlin lebt sie mit Lana zusammen. Um die Geschichte übersichtlich zu halten und mich nicht in Geschlechterfragen zu verheddern, nenne ich Lana den Holzfäller. Der Holzfäller hat blonde Löckchen, ist groß gewachsen und die Gutmütigkeit in Person. Dass Akosua parallel zu ihm eine Beziehung mit Isaac in Ghana führt, nimmt der Holzfäller gelassen hin, zumindest dem Anschein nach. Afrika ist weit weg, und Akosua fehlt das Geld, um zu pendeln. Akosuas Vater, ein sehr vitaler, diesseitiger Mann, der in Ghana Soldat war und jetzt in Düsseldorf lebt, rät seiner Tochter von der Beziehung zu Isaac ab. Er taugt in seinen Augen nicht viel. Was Daddy generell davon hält, dass seine Tochter (gleichberechtigt?) auch ihre afrikanische Identität leben will, kann ich nicht sagen. Der Film ist eine komplexe, sehr sorgfältig organisierte Reise, mit vielen Stationen und jeder Menge Protagonisten. Seine Kraft zieht er aus der unverkrampften Ehrlichkeit aller. Als Akosua einer Freundin in Afrika erzählt, dass ihr schwarzer, heterosexueller Freund in Accra ihre Beziehung in Berlin akzeptieren würde, sagt die Freundin: »Weil du weiß bist.«
Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Satz als Schluss stehenlassen kann. Die Entscheidung hat mir der Holzfäller abgenommen. Ich habe ihn gesehen. Er ist durch die Kiefernwälder bei Luckenwalde gerollt, zusammen mit einer bildschönen Frau. An mir vorbei. Auf der Fläming Skate. Kein Quatsch. Ich war auf dem Fahrrad unterwegs (für meine Gewichtsklasse gibt es keine Inlineskates). Vollbremsung, wenden, hinterher. »Hallo! Entschuldigung, ich habe Sie doch in dem Film gesehen.«
»Nee.« Er schüttelt entschieden den Kopf, weil er tatsächlich zu glauben scheint, dass ich ihn für einen Schauspieler halte. Ich erzähle von dem Dokumentarfilm. »Ach so, der Film. Ist schon lange her.« Er hat gehört, dass der Film gut sein soll. »Er ist großartig«, sage ich. »Besonders dein letzter Auftritt mit der Säge.« »Welche Säge?« Ich beschreibe ihm, wie er sein Sicherheitsgeschirr anlegt und auf eine mindestens zehn Meter hohe Eiche klettert. Oben in der Krone angekommen, wirft er seine Kettensäge an und legt los, bis ein mächtiger Ast in die Tiefe kracht. Der Holzfäller sagt: »Dann werde ich ihn mir wohl doch ansehen.«
Gute Entscheidung. Und wer hat das bewirkt? Icke!
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