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Aus: Ausgabe vom 17.04.2025, Seite 4 / Inland
Geschichtspolitik

Zurück bleiben die Kränze

Vertreter aus Russland und Belarus bei Gedenkfeier zum 80. Jahrestag der Schlacht um die Seelower Höhen. Ukrainischer Botschafter empört
Von Nico Popp, Seelow
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Der russische Botschafter Netschajew am Mittwoch in Seelow

Das sind, sagt ein älterer Herr zwischen den Gräbern, ja sogar mehr Leute als 2015, als am 70. Jahrestag zu Füßen des bereits im November 1945 eingeweihten Monuments mit dem hinab ins Oderbruch blickenden bronzenen Rotarmisten an die Schlacht um die Seelower Höhen erinnert wurde. Eine Frau meint, dass das auf jene im Vorfeld des 80. Jahrestages bis auf die kommunale Ebene durchgestellte »Handreichung« des Auswärtigen Amtes für Gedenkveranstaltungen zum Kriegsende, in der unverhohlen Ausschluss und Hinauswurf von Vertretern aus Russland und Belarus empfohlen werden, zurückzuführen ist. Den offenkundig auf die Herbeiführung von Zwischenfällen abzielenden Ukas hatte zuletzt sogar der Vize-Landrat des Kreises Märkisch-Oderland, Friedemann Hanke (CDU), als »Quatsch« bezeichnet.

Der Landkreis und die Stadt Seelow haben die Veranstaltung, ein »stilles Gedenken«, ausgerichtet. Sie hatten Vertreter aus Russland und Belarus nicht eingeladen, aber auch deutlich gemacht, dass sie einem Besuch keine Steine in den Weg legen werden. Am Mittwoch sind etwa 300 überwiegend ältere Menschen da, als der russische Botschafter Sergej Netschajew um kurz vor 11 Uhr mit einer kleinen Delegation die Treppenstufen zum Monument emporsteigt und einen Kranz niederlegt. Auch Andrej Schupljak, der belarussische Gesandte, ist vor Ort.

Viele Kamerateams und Fotografen sind da, können aber keine spektakulären Szenen festhalten. Auffallend ist ein Mann mit AfD-Kappe, der sich bei Interviews zielstrebig ins Kamerabild drängt. Ansonsten läuft alles ruhig und ohne Zwischenfälle ab. Als Netschajew, begleitet von Hanke und vom Seelower Bürgermeister Robert Nitz, die Stufen wieder herabsteigt, löst sich nach und nach die anfänglich durchaus spürbare Anspannung. Der Botschafter wird auf Schritt und Tritt angesprochen und wirkt schließlich sogar etwas überrascht von den vielen Menschen, die ihm die Hand schütteln wollen. Ab und an wird geklatscht, wenn er vorbeikommt. Etwas abseits singt eine kleine Chorgruppe Lieder aus der Arbeiterbewegung und den Kriegsjahren. Die Polizei hält sich betont zurück; fünf oder sechs uniformierte Beamte sind auf dem Gelände der Gedenkstätte und in deren Umfeld zu sehen – kein Vergleich zu den Polizeiaufmärschen, die seit 2022 in Berlin veranstaltet werden, um am Tag des Sieges das Zeigen von »sowjetischen Symbolen« zu unterbinden. An derlei denkt an diesem Tag in Seelow kein Mensch.

Es gibt sogar zwei kleine »offizielle« Termine, an denen der Botschafter teilnimmt. Drei Tafeln mit den Namen von Rotarmisten, die bei den schweren Kämpfen im April 1945 getötet, aber bis heute nicht geborgen wurden, werden eingeweiht. Und am Ende hilft Netschajew dabei, das Tuch von einer neu am Museum der Gedenkstätte angebrachten Plakette der »Liberation Route Europe« zu ziehen. Dann fährt er wieder ab.

Zurück bleiben die Kränze auf der kleinen Anhöhe. Jeweils einer von der russischen, der belarussischen und der kirgisischen Botschaft. Die BSW-Landtagsfraktion hat auch einen Kranz abgelegt. »Ewiger Dank für die Befreiung« steht auf der Schleife. Jeweils einen Kranz haben die Kreisebenen von Linkspartei, SPD und CDU beigesteuert. Einen anderen der Traditionsverband der Fallschirmjäger der NVA. Auch der Verband zur Pflege der Traditionen der NVA und der Grenztruppen der DDR ist vertreten. Etwas am Rande liegt ein Kranz der AfD-Landtagsfraktion, die im März einen Entschließungsantrag in den Landtag eingebracht hat, in dem die Befreiung vom Faschismus zum Auftakt für »ein halbes Jahrhundert der kommunistischen Diktatur« erklärt wird. Auf der Kranzschleife steht »Den Toten zum Gedenken«.

Überhaupt nicht gefallen hat die ganze Veranstaltung dem ukrainischen Botschafter Oleksij Makejew. Er erklärte im Sender Welt, dass es »unangebracht« sei, dass »ein Vertreter eines Verbrecherregimes, das mein Land jeden Tag mit Raketen, Bomben und Drohnen angreift«, in Seelow zugelassen werde. Damit entschuldigten »wir« die »Kriegsverbrechen, die seit 2014 von den Russen begangen werden«. Die Teilnahme des russischen Botschafters sei »ein Zeichen dafür, wie die Russen diesen Zweiten Weltkrieg für sich selber instrumentalisieren«, sagte Makejew weiter. Weder er noch andere Vertreter der ukrainischen Botschaft traten bei der Gedenkveranstaltung in Erscheinung.

Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes sprang Makejew am Mittwoch laut AFP bei. Für die Bundesregierung sei es »ganz klar«, dass das Andenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges und an die Rolle der Sowjetunion »in Ehren gehalten werden« müssten. Zugleich sei jedoch wichtig, »dass dieses Gedenken nicht instrumentalisiert wird«. Was genau am Auftritt Netschajews als »Instrumentalisierung« bewertet werden könnte, erläuterten weder er noch Makejew.

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  • Leserbrief von Claus Dobberke aus Potsdam (17. April 2025 um 12:09 Uhr)
    Auf sowjetischer Seite kämpften damals Soldaten, Offiziere, Generale aus allen 15 Sowjetrepubliken, auch Ukrainer. Sie kämpften gemeinsam gegen einen Aggressor, ohne dass sie nach Nationalitäten unterschieden wurden.
    Ukrainer kämpften auch auf seiten der Deutschen Wehrmacht, »in der 14. Waffen-Grenadier-Division der SS (galizische SS-Division Nr. 1), sie war eine Division der Waffen-SS, (die auch an den Massenmorden an den Juden in Babi Jar beteiligt war) (…) Die Mannschaften wurden vorwiegend vom Melnyk-Flügel der Organisation Ukrainischer Nationalisten gestellt.« (Wikipedia)
    Unser Auswärtiges Amt hat die inzwischen bekannt gewordene Empfehlung gegeben, russische und belorussische Vertreter für das Gedenken an die Toten dieses sinnlosen Schlachtens eines bereits verlorenen Krieges nicht zuzulassen. Wie geschichtsvergessen ist denn das? Weiß das Auswärtige Amt Deutschlands, dass mit einer solchen Empfehlung die Toten entehrt werden? Indem man ihnen die Ehre des Gedenkens verweigert, macht man ihren sinnlosen Tod noch sinnloser. Außer toten sowjetischen Russen liegen hier auch tote sowjetische Ukrainer, Kasachen, Georgier und andere Soldaten des Vielvölkerstaats Sowjetunion unbegraben. Und viele deutsche junge Männer. Und möglicherweise auch Ukrainische Nationalisten ihrer galizischen Waffen-SS -Division.
    In meiner Regionalzeitung wird Russland bereits als Feind bezeichnet. Vielleicht müssen wir dann auch alle Denkmäler und Friedhöfe schleifen, so wie die regierenden Nationalisten in der Ukraine es bereits geschafft haben, alles Russische ungesehen zu machen? Bereitet man uns bereits wieder auf einen großen Krieg vor gegen ein großes Land?
  • Leserbrief von Scharmann aus Neustadt (17. April 2025 um 09:45 Uhr)
    27 Millionen tote Sowjetbürger im Zweiten Weltkrieg sind eine Tatsache, die Relativierung, was leider dem gegenwärtigen Zeitgeist entspricht, ist unerträglich! Nie wieder Krieg und »dass nie wieder eine Mutter ihren Sohn beweint« – aus einer Nationalhymne, die älteren werden sich noch erinnern!
  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (17. April 2025 um 04:28 Uhr)
    Seelow – das war die Schlacht mit den jemals höchsten Opferzahlen auf deutschem Boden: 50.000 Tote, davon etwa zwei Drittel Angehörige der Roten Armee bzw. mit ihr verbündeter (!) polnischer Verbände und ein Drittel deutsches Militär. Die Westmächte hatten maximal lange die Eröffnung der zweiten Front hinausgezögert. Am 16. April 1945 waren die Kämpfe an der Westfront durch die Wehrmacht weitgehend eingestellt, ihre künftigen westlichen Verbündeten möglichst schnell in die Tiefe des Landes hindurch lassend. Geheimgespräche in der Schweiz gab es seit langem. Die meisten noch verfügbaren Kräfte wurden an die Ostfront geworfen. Churchill drängte darauf, nun in letzter Sekunde so viel Territorium wie möglich zu besetzen, auch Berlin, um der UdSSR den Sieg zu stehlen, den auf dem Schlachtfeld hauptsächlich sie errungen hatte. Deshalb gab es für Stalin und Schukow in Seelow einen unnötigen Zeitdruck, denn Deutschland hatte den Krieg verlässlich verloren. Bei westlichen Verbündeten, die einen solchen Namen verdienen, hätte man es ruhiger und anders angehen können. Zehntausende zusätzliche Tote in Seelow gehen auf die Politik der USA und GB zurück, die eben diesen Zeitdruck erzeugten. Sicher wäre es für die UdSSR hilfreich gewesen, wenn sie zwei Wochen mehr Zeit gehabt hätte. Die Wehrmacht wartete, stark gerüstet, oben auf den Seelower Höhen, um alles niederzumähen, was es wagte, heraufzukriechen. Es war für die Rote Armee und die polnischen Verbände ein Himmelfahrtskommando. Übrigens lehnt das offizielle Deutschland oder das offizielle Polen es auch ab, dort die gefallenen Polen zu ehren. Warum aber wurden diese deutschen Truppen, oben auf dem Berg, nicht mit alliierten Bombardements ebenso behandelt, wie die Briten und die US-Bomber die Zivilbevölkerung in zig deutschen Großstädten Nacht für Nacht zuvor dezimiert hatten? Hatten die auf einmal keine Bomber mehr? Seelow liegt näher als Dresden. Warum kam dort keine westliche Hilfe für Russland?
    Brauchte man die Reste der Wehrmacht noch für die »Operation unthinkable« (von Churchill vorgeschlagener Krieg von GB, USA und den Resten der Wehrmacht gegen die UdSSR ab 1. Juli 1945)? Auf jeden Fall sollte den Truppen der UdSSR auf den letzten Metern noch so viel Blut wie möglich abgezapft werden. Oleksij Makejew erklärte dass es »unangebracht« sei, dass »ein Vertreter eines Verbrecherregimes, das mein Land jeden Tag mit Raketen, Bomben und Drohnen angreift«, in Seelow zugelassen werde. Damit entschuldigten »wir« die »Kriegsverbrechen, die seit 2014 von den Russen begangen werden«. Es kann froh sein, dass er in Staaten, wo man beide Augen vor den Tatsachen verschließt, solche Reden schwingen darf. Die Ukraine war es, die den Krieg 2014 im Donbass eröffnete. Die überwiegende Anzahl der 14.000 Toten vor 2022 waren von der Ukraine getötete Zivilisten. Jeder getötete Zivilist, auch durch russischen Beschuss, ist einer zuviel. Doch Russland betrachtet die Territorien, in denen die Kämpfe jetzt statt finden, als seine Territorien, und die dort lebenden Menschen als seine Bürger. Die Ukraine dagegen sieht die dort lebende russische Bevölkerung als »fünfte Kolonne«, als Abtrünnige, die sich seit Ende der UdSSR nie mit der Zugehörigkeit zur Ukraine abfinden können, die seit 1990 in zahlreichen Abstimmungen für Russland votierten. Dieser Bevölkerungsanteil ist für Kiew verzichtbar. Man betrachtet es offen als positiv, sie zu töten oder nach Russland zu verjagen. Russland dagegen wird diese Gebiete niemals zurückgeben. Das ohnehin sehr dünn besiedelte Russland braucht in den jetzt umkämpften Gebieten nach dem Krieg jeden Ortsansässigen, jede helfende Hand für den Wiederaufbau. Dort hinziehen werden wenige Menschen wollen. Wer aber dort geboren wurde, kehrt auch in sein zerstörtes Dorf zurück. Deshalb ist es doch vollkommen klar, auf welcher Seite höchstwahrscheinlioch die meisten Kriegsverbrechen gegen Zivilisten in der Ostukraine verübt werden.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in André M. aus Berlin (17. April 2025 um 12:40 Uhr)
      Kleine Korrektur am Rande. Der polnische Militärattache hat am Denkmal in Seelow einen Kranz niedergelegt.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Andreas E. aus Schönefeld (16. April 2025 um 21:25 Uhr)
    Ein Stück weit bleibt der Respekt und die Ehrerbietung vor den gefallenen 27 Millionen Sowjetsoldaten erhalten. Auch dank des sicherlich nicht ganz einfachen Widerstands des Vizelandrates von der CDU gegen seine obersten Parteiführer aus dem Konrad-Adenauer-Haus. Und dass sich der ukrainische Botschafter über den Besuch des russischen Botschafters Sergej Jurijewitsch Netschajew und belorussischen Gesandten Andrej Schupljak so reißerisch auslässt – geschenkt. Ich muss hier wirklich den Organisatoren danken, weil dieses Gedenken so wichtig ist. Wir dürfen nicht vergessen, wer uns mehr als 45 Jahre Frieden in Europa ermöglichte – auch wenn diese Abkehr von der historischen Wahrheit zur Staatsräson werden soll. »Dank euch, ihr Sowjetsoldaten …« (Ernst Busch)

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