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Aus: Ausgabe vom 22.04.2025, Seite 5 / Inland
Gesundheitspolitik

Streit um E-Patientenakte

Millionen gesetzlich Versicherte widersprechen elektronischer Erfassung ihrer Gesundheitsdaten. Ende April startet »größtes Digitalprojekt« deutschlandweit
Von Oliver Rast
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Selbstreklame als Drohkulisse: Kassenpatienten sollten sich aus Gesundheitsgründen in Widerspruch üben

Sie soll den gesundheitlichen Lebensweg aller gesetzlich Versicherten dokumentieren, lückenlos: die elektronische Patientenakte (ePA). Darin Befunde des Hausarztes samt Krankschreibungen, Berichte von Klinikoperationen und nicht zuletzt Arztbriefe mit individueller Krankengeschichte, Diagnosen und Therapieempfehlungen. Kurz, die medizinische Vita als Datensatz.

Kritiker befürchten Datenschutzverstöße, Sicherheitslücken, Technikprobleme. Schlimmer noch, die Gesundheitsdaten könnten für kommerzielle Zwecke genutzt werden, etwa von KI-Giganten. Zumal Nochbundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) unlängst gesagt hatte, er »sei schon im Gespräch mit Meta, Open AI und Google«, um Konzernen eine Datennutzung zu gewähren. Ein Warnsignal.

Ende April soll die Hochlaufphase der ePA nach der Testphase in drei Modellregionen beginnen, verlautbarte Lauterbach am Dienstag voriger Woche in einem Brief an die Gematik, also die nationale Agentur für digitale Medizin, dem Gesellschafterkreis der Spitzenorganisationen des deutschen Gesundheitswesens. Mit der Bereitstellung von rund 70 Millionen ePAs sei nicht nur ein »erster Meilenstein erreicht«, meint der kommissarische Minister. Mehr noch, das »Fundament für die Digitalisierung unseres Gesundheitssystems« sei gelegt worden. Ärzte in Praxen und Kliniken, die Leistungserbringer also, müssen ab 1. Oktober dieses Jahres eine Digitalakte ihrer Patienten angelegt haben. Spätestens.

Doch Millionen bei gesetzlichen Krankenkassen Versicherte widersprechen dem digitalen Zugriff auf persönliche Informationen. Dies ergab eine Abfrage vom Spiegel beim Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen GKV, berichtete das Nachrichtenmagazin am Sonnabend. Dem Verband zufolge liege die Widerspruchsquote bei aktuell »gut fünf Prozent«. Im Schnitt. Denn die Quoten differierten bei einzelnen GKV. Demnach habe die Techniker Krankenkasse – mit einer Widerspruchsquote von rund sieben Prozent der mehr als zwölf Millionen Versicherten – »einen vergleichsweise hohen Anteil, die keine ePA wollen«. Das seien bei Deutschlands größter Krankenkasse rund 840.000 Personen.

Und bei den Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK)? Während bei der AOK Plus die Quote über sieben Prozent betrage, »wollen bei der kleinen AOK Bremen nur knapp zwei Prozent keinen elektronischen Patientendatenspeicher«, so der Spiegel weiter. Unter dem Strich hätten bislang gut eine Million AOK-Versicherte widersprochen – etwas mehr als vier Prozent. Der Datenstand des AOK-Bundesverbands sei aber einen Monat alt.

Eine Ablehnungsfront gesetzlich Versicherter, mit der das Nochbundeskabinett zufrieden sein dürfte. So ging man dort laut Medienberichten ursprünglich von rund 20 Prozent aus, die der ePA widersprechen würden. Übrigens: Für private Krankenversicherungen (PKV) bleibt die ePA freiwillig, wobei das Gros der Privatversicherten nach Angaben des PKV-Verbands bis Jahresende die App nutzen können sollte.

Nur, wie sieht es mit potentiellen Datenlecks aus? Beispielsweise. Lauterbach bekräftigte gegenüber dpa am vergangenen Mittwoch, eine im Dezember 2024 vom Chaos Computer Club aufgedeckte Sicherheitslücke sei rechtzeitig vor dem ePA-Start behoben worden. Diese Schwachstelle hätte Angreifern es ermöglichen können, auf sämtliche elektronische Patientenakten zuzugreifen. So ein Massenangriff sei nun »technisch nicht mehr möglich«, versicherte Lauterbach. Das habe das Bundesamt für Sicherheit und Informationstechnik dem Ministerium bestätigt.

Beruhigend ist das nicht. Weil es geht um astronomische Summen. »Die deutschen Gesundheitsdaten aus den Arztpraxen stellen ein Gesundheitsdatenvermögen zwischen 576 Milliarden und 3.000 Milliarden Euro dar (je nach Wert einer Behandlungsakte zwischen 400 und 2.000 Euro)«, hatte der Kölner Hausarzt Stefan Streit bereits im Februar in einem Gastbeitrag der Ärztezeitung errechnet. Hinzu komme der Wert der jährlich 19 Millionen Behandlungsfälle im Krankenhaus.

Kurzum, Verfechter der ePA versprechen eine verbesserte medizinische Behandlung; Kritiker sehen im Datenmaterial eine Handelsware. Ein Widerstreit um die Patientenvita. Ungelöst.

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