Vollendet
Von Arnold Schölzel
Seit der Unabhängigkeit der baltischen Staaten und der Ukraine von der Sowjetunion 1990 und 1991 wurden diese Länder zu Experimentierfeldern für die Relativierung und Rechtfertigung der einheimischen Kollaboration mit dem deutschen Faschismus. Nach Übernahme durch EU und NATO – in der Ukraine nach dem von EU und NATO gesponserten Sturz der frei gewählten Regierung 2014 – wurde die Geschichtspolitik dieser und anderer Länder wie Polens nach und nach auch in Westeuropa dominierend. Aus der Verharmlosung von Faschismus und Krieg ist heute die offene Attacke auf das geworden, was im Potsdamer Abkommen oder vom Nürnberger Kriegsverbrechertribunal über die beispiellose Menschenvernichtung des Naziregimes gesagt wird. Wie anders lässt sich interpretieren, dass deutsches Auswärtiges Amt – in seinen Anfängen eine bloße Fortsetzung des faschistischen Ribbentrop-Ministeriums – und Bundestag offiziell russische und belarussische Vertreter von Gedenkfeiern zum 80. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus ausladen? Die Tatsache, dass es insbesondere für diese beiden Nationen im Zweiten Weltkrieg um die Existenz von Staatlichkeit und Bevölkerung ging, ist im Abgrund von regierungsamtlicher und medialer Dummheit, Unbildung und neu belebtem Revanchismus versunken. Allein für die Sowjetunion sahen die deutschen Pläne bis Ende 1941 rund 40 Millionen Tote vor, am Ende des Krieges waren es 27 Millionen. Das Baerbock-Ministerium und Bundestagspräsidentin Julia Klöckner sagen mit ihren Erlassen faktisch: Das hat es nicht gegeben.
Aus Relativierung und Rechtfertigung ist 2025 die Vollendung einer Geschichtsdoktrin geworden, die parallel zur NATO- und EU-Expansion verbreitet wurde und wird. Sie beruht auf dem Dogma, dass es im Osten 1945 keine, sondern nur im Westen eine Befreiung vom Faschismus gab. Und sie erklärt die Daten des 8. und 9. Mai für nebensächlich. Einen vorläufigen Schlusspunkt unter das faktische Bekenntnis zur möglichen Wiederholung setzten am 14. April Kiew und die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas. Bei einem EU-Außenministertreffen mit den sechs EU-Bewerberstaaten des Westbalkans lud die Ukraine dazu ein, am 9. Mai nicht nach Moskau, sondern nach Kiew zu fahren. Kallas machte daraus: Die EU werde eine Teilnahme an den Feierlichkeiten in Moskau »nicht auf die leichte Schulter nehmen«, die Teilnahme eines Kandidatenlandes wünsche sie nicht.
In deutschen Medien kam der Skandal nicht vor, außer in der Berliner Zeitung. Dort wies eine ukrainische Historikerin darauf hin, dass erst vor zwei Jahren eine glorifizierende Ausstellung für die SS-Division »Galizien« in Kiew gezeigt wurde, die dann auf Wanderschaft nach Litauen ging. Der slowakische Regierungschef Robert Fico, der am 9. Mai in Moskau sein will, übermittelte Kallas, 2025 sei nicht 1939. Alles spricht dafür, dass sie genau das meint.
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