»Man kann sie nicht verurteilen«
Interview: Gitta Düperthal
Im Justizpalast in Istanbul soll am Freitag erneut eine Anhörung im Prozess gegen Pınar Selek stattfinden. Immer noch droht das türkische Gericht der in Nizza lebenden Schriftstellerin und Soziologieprofessorin türkischer Herkunft mit einer lebenslangen Haftstrafe für ein Attentat, das nicht stattgefunden hat. Wie erklären Sie sich das?
Alles begann vor fast 27 Jahren. Pınar wurde verhaftet, weil sie sich für die kurdische Minderheit in der Türkei engagierte, Soziologie studiert hatte, als Wissenschaftlerin Einfluss nehmen konnte, wenn diese politisch und sozial diskriminiert wurde. Sie wurde in der Haft gefoltert, weil man sie dazu bringen wollte, Namen kurdischer Genossinnen und Genossen zu verraten. Pinar schwieg. Weil sie sich von Frankreich aus, wo sie an der Universität lehrt, weiterhin für Gerechtigkeit und Frieden ausspricht, kann sie dem Regime Recep Tayyip Erdoğans mit ihrer Widerständigkeit gefährlich werden. Deshalb versuchte man, ihr einen terroristischen Anschlag zu unterstellen, wovon sie stets freigesprochen wurde, weil es ihn nachweislich nicht gab. Das vermeintliche Bombenattentat auf einen Gewürzmarkt in Istanbul am 9. Juli 1998 war die Explosion einer defekten Gasleitung. Die türkische AKP-Regierung aber insistiert, Pınar weiter zu verfolgen.
Das Gericht verschiebt, verzögert, kommt zu keinem Urteil …
Man kann sie nicht verurteilen. Der Prozess gegen sie wird als Farce fortgeführt, zuletzt mit einer Anhörung am 7. Februar. Jetzt am Freitag findet eine fünfte Anhörung mit absurder politisch motivierter Anklage vorm Obersten Gerichtshof in Istanbul statt. Neuerlich behauptete das türkische Innenministerium fälschlich, Pınar habe an einer terroristisch motivierten Versammlung teilgenommen: Es war eine wissenschaftliche Veranstaltung der Université Côte d’Azur!
Auf welche Weise macht das der in Frankreich lebenden Wissenschaftlerin das Leben schwer?
Pınar kann weder in die Türkei noch in andere Staaten reisen, weil sie mit internationalem Haftbefehl gesucht wird. Obwohl sie in vier getrennten Verfahren freigesprochen wurde, wird sie weiterhin verfolgt, was ihren Alltag enorm belastet. Auch Reisen aus beruflichen Gründen kann sie wegen der unhaltbaren Vorwürfe nicht wahrnehmen.
Ständig neue Anhörungen: Ist es schwierig, die Solidarität aufrechtzuerhalten?
Es ist nicht einfach. Aber wir stehen an der Seite von Pınar – in der Türkei, in Frankreich, überhaupt in Europa sowie den USA, Indien und Lateinamerika, um diesen politischen Prozess gegen die akademische Freiheit und die Meinungsfreiheit anzuprangern. Wir werden dafür sorgen, dass Pınar sich trotz der neuen Bedrohungen weiter frei äußern kann. Dass die türkische Staatsmacht ihre Versuche fortsetzt, sich in die Justiz, die Forschung und universitäres Schaffen einzumischen, werden wir nicht zulassen.
Über Pınars Fall berichten Zeitungen wie El Pais und Le Monde. Angela Davis, die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux und die Friedensnobelpreisträgerin Narges Mohammadi unterstützen sie. Viele Menschen teilen die Werte, die sie vertritt: Sie ist Feministin, Antimilitaristin, tritt für Diversität in Gesellschaften weltweit ein. Wieder wird eine Delegation mit etwa 35 Juristinnen, Wissenschaftlerinnen und Menschenrechtsvertretern nach Istanbul fahren.
Kann man überhaupt noch von Unabhängigkeit der türkischen Justiz sprechen; auch angesichts neuer politischer Entwicklungen, die mit der Festnahme des Bürgermeisters von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, und dem Widerstand dagegen einhergehen?
Erdoğan tut alles, um die Justiz unter seine Kontrolle zu kriegen, auch im Fall seines Konkurrenten für die Präsidentschaft: İmamoğlu ließ er mit vermeintlichen Korruptionsvorwürfen überziehen, einen seiner Anwälte verhaften. Am 25. April, dem Tag, wenn Pınar erneut eine Anhörung hat, wird es vorm selben Gericht in Istanbul auch eine für Studierende geben, die sich an Protesten gegen İmamoğlus Festnahme und für die Demokratie beteiligten. Wie sie stehen wir gegen die Willkür ein. Unsere Delegation wird dort also nicht alleine für die Einhaltung der Menschenrechte eintreten.
Yves Doazan ist aktiv in der »Koordination der Komitees für Solidarität mit Pınar Selek« (Coordination des comités de solidarité avec Pınar Selek) und der Liga für Menschenrechte (Ligue des droits de l’homme)
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