»Ständig schiebt man ihr Fake-Geschichten unter«
Interview: Gitta Düperthal![imago800352049.jpg](/img/450/205256.jpg)
Der Justizskandal um Pınar Selek, Soziologin, Schriftstellerin und ehemals Writers-in-Exile-Stipendiatin des deutschen PEN, hält seit mehr als 26 Jahren an. Es besteht ein internationaler Haftbefehl: Trotz fehlender Beweise wird sie ständig erneut mit einem angeblichen Bombenanschlag im Istanbuler Gewürzbasar in Verbindung gebracht. Am Freitag hat eine Verhandlung stattgefunden, das Gericht aber verschob das Verfahren auf den 25. April – warum?
Die Reaktion der aus Solidarität nach Istanbul zum Prozess angereisten Delegation, wie aus dem weiteren Umfeld von Pınar, die in Südfrankreich lebt, ist eindeutig. Internationale Unterstützerinnen und Unterstützer von ihr vermuten einen Versuch des türkischen Gerichts, auf Zeit zu spielen, um die Solidaritätsbewegung zu zermürben, damit sie ihren Widerstand aufgibt.
Könnte die Mobilisierung scheitern, etwa für die Delegation aus Akademikern, Schriftstellerinnen, Herausgebern und Abgeordneten, die zu Prozessen nach Istanbul anreist?
Es ist grandios, wie entschlossen alle weiterhin zu Pınar halten. Sollten die türkischen Behörden glauben, die Unterstützung minimieren zu können, täuschen sie sich. »Wir werden nur noch stärker, entschiedener und mehr werden«, war der Tenor bei einer Veranstaltung am Freitag in Frankreich. Pınar sagte, sie sei erschöpft, werde aber weiterkämpfen. Alle waren schockiert darüber, dass ein internationaler Haftbefehl gegen Pınar aufrechterhalten wird. Sie ist bereits viermal freigesprochen worden. Fakt ist: Ständig schiebt man ihr Fake-Geschichten unter, wie die Beteiligung an einem angeblichen terroristischen Anschlag. Laut gerichtlich bestellter Gutachter ist umstritten, ob er überhaupt stattfand. Jene Explosion in dem Basar 1998 könnte ein Unfall mit einem Gasbehälter gewesen sein. Weiterhin wird ihr unterstellt, an einer Veranstaltung der PKK (in der Türkei verbotene Arbeiterpartei Kurdistans, jW) beteiligt gewesen sein: Es war eine Veranstaltung der Universität Cote d’Azur, wie diese richtigstellte.
Die Richtigstellung war aus den Gerichtsakten verschwunden.
Der Prozess ist kafkaesk: Um jeden Preis will man Pınar Selek festnageln, die mit alldem gar nichts zu tun hat. Die türkische Justiz beharrt auf der endlosen Wiederholung ihres Antrags auf Erlass eines internationalen Haftbefehls und ihrem Erscheinen vor Gericht in Istanbul.
Pınar Selek ist Antimilitaristin und forscht als Wissenschaftlerin an der Université Côte d’Azur in Frankreich zu ausgegrenzten Minderheiten, etwa kurdischen und armenischen. Wie ist der Verfolgungseifer der türkischen Justiz zu erklären?
Es zeigt sich, dass die Verantwortlichen in Politik und Justiz recht haben und auf keinen Fall nachgeben wollen.
In der Türkei unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan werden Oppositionspolitiker wie Selahattin Demirtaş, Figen Yüksekdağ und andere Intellektuelle seit fast einem Jahrzehnt gefangengehalten. Wie brutal ist die politische Repression?
Auch der Mäzen und Menschenrechtsaktivist Osman Kavala sitzt dort seit langem im Gefängnis. Es scheint schier unerträglich, wenn Menschen eine andere Meinung vertreten. Die im Exil in Deutschland lebende Schriftstellerin Aslı Erdoğan kommentierte: Selbst für einen Staat wie die Türkei sei das Vorgehen gegen Pınar schockierend.
Selek erhielt von der Stadt Grenoble eine Anerkennungsmedaille für ihre Forschung. Sie schickte sie an das Evin-Gefängnis im Iran zu Händen der zwei kurdischen Gefangenen Verisheh Moradi und Pakhshan Azizi. Beide sind zum Tode verurteilt. Hatte PEN sie als Stipendiatin von 2009 bis 2011 als solidarisch handelnde Intellektuelle kennengelernt?
Wir sind stolz darauf, dass eine kluge, mutige Frau wie Pınar bei uns Stipendiatin war. Ungeachtet ihrer eigenen Situation im Exil in Frankreich unter permanentem Druck bringt sie die Kraft auf, sich für andere verfolgte Frauen einzusetzen. Das ist etwas Besonderes.
Astrid Vehstedt ist Writers-in-Exile Beauftragte und Vizepräsidentin vom PEN-Zentrum Deutschland e. V.
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