Historische Antikorruptionsproteste
Von Thorben Austen, Quetzaltenango
Der Zulauf an Demonstranten auf den zentralen Platz der Verfassung an jenem Sonnabend vor genau zehn Jahren war zögerlich, als wolle man erst mal abwarten, wie viele tatsächlich zusammenkommen. Doch am Ende waren es gut 30.000 Menschen in der Hauptstadt, rund 9.000 in der zweitgrößten Stadt Quetzaltenango, Tausende weitere in kleineren Städten. Der Protest war ein Novum in Guatemala. Nicht die traditionellen linken Organisationen, Studenten der staatlichen Uni oder die mobilisierungsstarken Landarbeiterorganisationen hatten aufgerufen, sondern ganz normale Bürger, vor allem in den sozialen Netzwerken. Der Anlass: Am 16. April 2015 waren Ermittlungsergebnisse der UN-Kommission gegen Straffreiheit in Guatemala an die Öffentlichkeit gelangt. Ein Netzwerk, genannt La Línea, (Die Linie) hatte demnach Unternehmen »geholfen«, Produkte ohne Zoll- und Steuerzahlungen ein- und auszuführen, vor allem über die Häfen des Landes. Dem Staat sollen dabei gut 302 Millionen Quetzales (etwa 35 Millionen Euro) Schaden entstanden sein. An der Spitze des Netzwerkes standen der damalige Staatschef Otto Pérez Molina und seine Vizepräsidentin Roxanna Baldetti. Das war selbst für die an Korruptionsskandale gewohnte Bevölkerung Guatemalas zuviel.
Es waren Zehntausende, viele aus der Mittelschicht, viele das erste Mal in ihrem Leben auf einer Demonstration, die ab dem 25. April Woche für Woche auf die Straße gingen. Kein gewöhnliches Bild in Guatemala, wo der Schrecken des Bürgerkrieges bei vielen tief in der Erinnerung sitzt: In den 1970er und 80er Jahren waren Tausende politische Aktivisten dem Terror von Einsatzkräften und Paramilitärs zum Opfer gefallen. »Ihr habt uns alles genommen, am Ende auch die Angst«, dieses häufig zu lesende Plakat auf den Protestmärschen brachte die Stimmung vor zehn Jahren zum Ausdruck. Sie führten schließlich zu einem Generalstreik am 27. August. Nach der Aufhebung der Immunität und der Inhaftierung von Molina und Baldetti im August und September ebbte der Protest zunächst ab.
Wenig später, im September, standen allgemeine Wahlen an. Doch von seiten der Bewegung gab es keine konkreten Wahlaufrufe. Zu Recht wurden die meisten Parteien misstrauisch beäugt und als reine Wahlvereine gesehen, die sich nur für ein oder zwei Legislaturperioden gründen. Mit dem Slogan »Zu diesen Bedingungen wollen wir keine Wahlen« forderte die Bewegung eine Reform des Wahlgesetzes. Doch mit Jimmy Morales als Sieger der Präsidentschaftswahlen entwickelten sich die Geschicke des Landes anders als die Demonstranten gehofft hatten. Der sogenannte Pakt der Korrupten, eine Allianz aus Politikern, Unternehmerverbänden und Teilen der organisierten Kriminalität, unterwanderte schrittweise die Instanzen des Staates. In der Folge mussten Dutzende unabhängige Juristen und kritische Journalisten das Land verlassen oder wurden inhaftiert.
Die Bewegung mobilisierte in den Folgejahren immer wieder dagegen, doch überwiegend ohne unmittelbaren Erfolg. Am 14. Juli 2017 gründen Aktivisten aus der Protestbewegung die Partei Movimiento Semilla. Ihre Präsidentschaftskandidatin für 2019, die ehemalige Generalstaatsanwältin Thelma Aldana, wurde mit konstruierten Vorwürfen von der Wahl ausgeschlossen, sieben Abgeordnete konnte Semilla dennoch ins Parlament entsenden. Bei den Wahlen 2023 war mit verschiedenen Ausschlüssen linker wie rechter Kandidaten, die den Pakt der Korrupten kritisierten, eigentlich alles für einen erneuten Wahlsieg der bestechlichen Eliten vorbereitet. Dass Semilla-Kandidat Bernardo Arévalo im August 2023 zum Präsidenten Guatemalas gewählt wurde, war aus Sicht des »Paktes« ein Betriebsunfall: Man hatte schlicht vergessen, den noch wenige Tage vor der Wahl in Umfragen bei wenigen Prozentpunkten liegenden Arévalo auszuschließen.
Mit dem Wahlsieg des Sozialdemokraten ist ein Teil der Protestbewegung von 2015 in Regierungsverantwortung gelangt, allerdings kontrolliert der Pakt der Korrupten weiterhin Justiz, Parlament und weitere Instanzen. Tiefgreifende Reformen konnte die Regierung Arévalo daher bislang nicht durchsetzen.
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