»Die Völkermordpläne richteten sich gegen alle in der Sowjetunion«
Interview: Fabian LinderWie steht es um die historische Forschung zum deutschen Vernichtungskrieg in Osteuropa?
Viele Experten, die sich mit ihm beschäftigen, sprechen von Völkermord – andere nicht. Am 27. Januar, am Jahrestag der Befreiung von Auschwitz sowie der Leningrads von der Blockade, veröffentlichte die Berlin6er Zeitung zum Beispiel ein Interview mit einem der führenden Forscher auf diesem Gebiet, mit Götz Aly. Er sagte klar und deutlich, dass es sich bei den Plänen der NS-Führung, fünf Millionen Menschen in Leningrad verhungern und erfrieren zu lassen, um anschließend die Stadt dem Erdboden gleichzumachen, sowie bei den gleichen Vorhaben für Moskau, um völkermörderische Absichten handelte. Der teilweisen Verwirklichung dieser Pläne fielen fast eine Million Zivilisten zum Opfer. Daher hält Aly die Forderung für berechtigt, die Blockade Leningrads als Völkermord anzuerkennen. Der Krieg gegen Polen seit 1939 und gegen die Sowjetunion seit 1941 war mit entsprechenden Plänen verbunden.
Der Historiker Christian Streit nutzte ebenfalls den Begriff Völkermord, etwa in dem im Jahr 2020 erschienenen Band »Vernichtungskrieg im Osten«. Streit verfasste das Buch gemeinsam mit Hannes Heer, dem Organisator der Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht« von 1995. Heer äußerte in einem Interview zum 8. Mai 2020, dass »ein anderer Völkermord, vorbereitet und durchgeführt aus ebenfalls rassistischen Gründen, in der Erinnerung fehlt und noch immer keinen Platz hat. Den an den Slawen. 30 Millionen Menschen, slawische Untermenschen im Jargon der Nazis, das war der andere deutsche Völkermord.«
Bereits 1988 sprach der Historiker Rolf-Dieter Müller vom »anderen Holocaust«. Er schrieb damals in der Zeit, dass »vieles darauf hindeute, dass dem russischen Volk ein ähnliches Schicksal zugedacht war wie dem jüdischen. Es ging um die Vernichtung der östlichen Nachbarn, um die Auslöschung des russischen Volkes.« Der Begriff des »anderen Holocausts« fand sich später in Publikationen prominenter und anerkannter Experten. Aber es gibt auch Historiker, die den Begriff Völkermord für den deutschen Vernichtungskrieg im Osten – aus welchen Gründen auch immer – bewusst vermeiden und dennoch von einer absichtlichen, geplanten Massenvernichtung der sowjetischen Zivilbevölkerung sprechen. Das ist aber eindeutig ein Indiz für Völkermord.
Sehen Sie weitere Indizien für einen Genozid?
Es gibt mit der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords von 1948 eine klare juristische Definition. Als Völkermord wird eine der folgenden Handlungen bezeichnet, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören: Tötung von Mitgliedern dieser Gruppe, Verursachung schwerer körperlicher und seelischer Schäden an ihnen, vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen, die geeignet sind ihre Beseitigung ganz oder teilweise herbeizuführen, Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind und die gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.
Alle fünf Punkte treffen auf den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion zu. Zu jedem von ihnen gibt es heute eine umfassende Historiographie in deutscher, englischer und russischer Sprache. Dass die NS-Führung die Massenvernichtung der sowjetischen Zivilbevölkerung, insbesondere der slawischen Völker, aus rassenideologischen Gründen beabsichtigte und mit besonders grausamen Methoden durchführte, wurde nicht nur im Urteil des Internationalen Militärgerichtshofs in Nürnberg, sondern auch in mehreren Urteilen west- und ostdeutscher Gerichte offiziell anerkannt.
In der Entscheidung des Landgerichts Tübingen aus dem Jahr 1964 im Prozess gegen das Personal des KZ Stutthof heißt es zum Beispiel: »Hitler und seine Trabanten hatten sich das Ziel der Ausrottung sämtlicher Juden im deutschen Reich gestellt. Die slawischen Völker galten als minderwertig und sollten dezimiert werden.« Auch diese teilweise Vernichtung zählt nach obiger Definition als Völkermord. In einem weiteren Urteil dieses Gerichts von 1969 gegen Erhard Kröger, Chef des Einsatzkommandos sechs der Einsatzgruppe C, steht, dass die NS-Machthaber zum Zweck der Gewinnung von Lebensraum im Osten nicht nur die gemeinsame Ausschaltung der Intelligenz und Führungsschichten der Ostvölker, sondern auch deren physische Dezimierung geplant hatten. Das sei schon bei und nach dem Polen-Feldzug sowie insbesondere im Krieg gegen die Sowjetunion in die Tat umgesetzt worden.
Das sind Gerichtsentscheidungen, die immer noch juristische Kraft haben und vor allem vom Urteil des internationalen Militärgerichts inspiriert sein dürften. In dessen Entscheidung von 1946 wird festgestellt, dass jedenfalls im Osten die Massenmorde und Taten nicht nur begangen wurden, um Widerstand zu bekämpfen. In Polen und der Sowjetunion waren diese Verbrechen Teil eines Planes, der darauf abzielte, die gesamte einheimische Bevölkerung durch Vertreibung und Vernichtung zu beseitigen.
Hinzu kommt: Was von 1941 bis 1945 in den besetzten sowjetischen Gebieten und auch im Reichsgebiet mit sowjetischen Kriegsgefangenen und sogenannten Ostarbeitern geschah, entspricht exakt der Völkermorddefinition. Am Ende fielen der Vernichtung 5,7 Millionen polnische Slawen, mehr als zehn Millionen sowjetische Slawen sowie über zwei Millionen sowjetische Juden und eine unbekannte Zahl nichtslawischer Menschen der Sowjetunion zum Opfer.
Gibt es bei dieser Beurteilung Differenzen in der Geschichtswissenschaft europäischer Länder?
Meines Erachtens gibt zumindest keine Differenzen zwischen der russischen und der deutschen Forschung, was in der heutigen politischen Situation vielleicht zu erwarten wäre. Es gibt sie eher bei anderen Aspekten des Zweiten Weltkriegs. In der BRD wurde etwa seit den späten 1980er Jahren dazu geforscht. In Russland war es nicht nötig nachzuweisen, dass es einen Vernichtungskrieg gegeben hatte. Jede Familie wusste es und hatte jemanden verloren. Während der Perestroika ab 1985 und des Zerfalls der Sowjetunion kamen starke antisowjetische Stimmungen in bestimmten Gesellschaftsgruppen auf – das ging bis zu Geschichtsrevisionismus und NS-Propaganda. Erst 2007 erschien das Buch von Alexander Djukow: »Wofür die Sowjetmenschen gekämpft haben«. Es zeigte, welches Schicksal für die Bevölkerung in besetzten sowjetischen Gebieten vorgesehen war. 2017 veröffentlichte Jegor Jakowlew das Buch »Vernichtungskrieg«. Er war wohl der erste russische Forscher, der sich explizit mit dem Thema beschäftigte und heute als führender Experte gilt.
Von der Vernichtung waren die Völker der UdSSR unterschiedlich betroffen. Muss der Begriff Völkermord insofern differenziert angewendet werden?
Nein. Die Völkermordpläne richteten sich zwar vor allem gegen Slawen, also Russen, Weißrussen, Ukrainer sowie natürlich gegen sowjetische Juden und Sinti und Roma. Aber im sogenannten Lebensraum, den die Deutschen erobern wollten, lebten auch nichtslawische Völker. Die NS-Führung nannte zwar nicht explizit die Vernichtung von Tataren, Kalmücken, Komi, Tscherkessen und anderen, in den Kolonisationsplänen waren aber bestimmte Gebiete nur für deutsche Siedler vorgesehen. Die einheimische Bevölkerung sollte weg, musste also entweder vertrieben oder vernichtet werden, unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit. Es gab auch keinen fertigen Plan, asiatische Völker der Sowjetunion zu vernichten, aber nicht selten wurden Kriegsgefangene asiatischer Herkunft und Juden einfach erschossen – weil sie Asiaten waren und die Nazis sie für besonders wild, gefährlich und minderwertig hielten. Ausdrücke wie »asiatische Horden« oder »asiatische Gefahr« waren typisch für die NS-Propaganda.
In der Völkermorddefinition werden nicht nur ethnische oder religiöse Gruppen genannt, sondern auch nationale. Ich bin der Ansicht, dass man vom sowjetischen Volk als einer polyethnischen nationalen Gruppe sprechen kann – ähnlich wie die US-Amerikaner sich heute als eine Nation betrachten. So gesehen lässt sich nicht nur vom Völkermord an den Slawen, sondern von dem an der sowjetischen Bevölkerung sprechen.
Wie lässt sich eine solche Einordnung zu anderen Genoziden in Bezug setzen?
Das ist eine sensible Frage und die Konkurrenz der Opfer wird heute in Russland Thema in der wissenschaftlichen Diskussion. Man kann den deutschen Vernichtungskrieg im Osten als kolonialen Genozid einordnen. Es ging nicht um die Vernichtung einer Gruppe, egal wo deren Vertreter leben, sondern um Siedlungsraum, innerhalb dessen die einheimische Bevölkerung vernichtet werden sollte. Das ist eine andere Art von Völkermord. Der Holocaust galt lange als der einzige Völkermord des 20. Jahrhunderts. Er hat einen festen Platz in der Massenkultur und wird in Filmen, Büchern, Gedenkstätten und am Beispiel bekannter Personen wie Anne Frank verhandelt. Es gibt in bestimmten Kreisen, auch in Russland, Unzufriedenheit wegen der fehlenden Anerkennung des Völkermords an den Slawen, etwa wenn behauptet wird, dass damit die jüdische Tragödie relativiert werde. Ich denke, diese Konkurrenz der Opfer muss nicht sein. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Völkermorde, beide forderten Millionen Opfer. Aber es gibt wichtige Unterschiede, etwa den, dass die Juden vollständig vernichtet werden sollten, die Slawen teilweise. Die Historiker, die heute dafür plädieren, den Völkermord an Slawen anzuerkennen, unterstreichen stets, dass damit der Holocaust auf keinen Fall relativiert wird.
Warum ist die Anerkennung dieses Völkermordes für heute wichtig?
Der Holocaust war von einem breiten Publikum jahrzehntelang praktisch als einziger Völkermord, als Synonym, verstanden worden. So stellt man sich heute noch Völkermord vor: mit Vernichtungslagern, Gaskammern und Krematorien und einer bürokratisierten industriellen Vernichtung. Das führt zur Auffassung, heute sei ein Völkermord nicht mehr möglich. Das ist falsch. Völkermord hat viele Formen, ist jederzeit möglich und geschieht irgendwo gerade jetzt.
Ein weiterer Grund ist die Anerkennung der historischen Wahrheit. Wir leben in einer ungerechten Welt, aber wenn wir bei einer bestimmten Sache die historische Wahrheit wiederherstellen können, warum sollten wir das nicht machen?
Anerkennung als Völkermord geht oft mit der Forderung nach Wiedergutmachung einher. Gibt es die?
Die meisten Menschen, welche die deutsche Besatzung überlebt haben, sind tot. Es geht nicht um irgendwelche Zahlungen, sondern allein um die Anerkennung für sie und ihre Nachkommen. Bei der Forderung, die Leningrader Blockade als Völkermord anzuerkennen, sprach Russland nicht von Geld. Dennoch ist es schon merkwürdig, dass Deutschland lediglich bereit ist, jüdische Opfer dieser Blockade zu entschädigen und andere nicht. Es ist offensichtlich, dass alle Einwohner Leningrads damals in gleicher Weise litten und starben.
Was die Wiedergutmachung betrifft: 1953 hat die Sowjetunion beschlossen, auf alle Reparationsansprüche gegenüber Deutschland zu verzichten. Es gibt ein Abkommen mit der DDR, das bis heute gilt.
Spielt die Völkermordthematik in der Politik Russlands und anderer früherer Republiken der UdSSR eine Rolle?
Es gibt unterschiedliche Positionen. In der Ukraine ist das mit der aktuellen politischen Situation verbunden. Die baltischen Staaten haben eine eigene Meinung. In Belarus ist der Völkermord am belarussischen Volk durch ein Gesetz seit drei Jahren offiziell anerkannt. Das damalige Weißrussland hat unter der deutschen Besatzung enorm gelitten. Es gab Kinderkonzentrationslager, über 9.000 Dörfer wurden niedergebrannt, mehr als 5.000 davon mitsamt Einwohnern vernichtet. In Russland verabschiedete das Parlament im April dieses Jahres ein entsprechendes Gesetz zum Völkermord am sowjetischen Volk.
Außenpolitisch könnte ein nächster Schritt sein, von den Vereinten Nationen die Anerkennung des Völkermords zu fordern. Für die Innenpolitik ist das wichtig zur Bewahrung des historischen Gedächtnisses und für die Abwehr von Versuchen, die Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs zu revidieren, zu verdrehen oder zu fälschen. Man muss auch in Jahrzehnten wissen, dass die NS-Führung plante, die sowjetische Bevölkerung stark zu dezimieren, dass der Tod von Millionen sowjetischer Zivilisten eine direkte Folge davon war und sie keine zufällige Opfer der Kriegshandlungen waren. Es geht nicht darum, ein neues Geschichtsbild zu erfinden, das in die aktuelle politische Situation passt. Es geht um die Tatsache, dass im Frühjahr 1941, noch vor Beginn des Ostfeldzugs die Vernichtung von Millionen Menschen geplant und im Laufe des Krieges verwirklicht wurde.
In Deutschland werden gegenwärtig Vertreter Russlands daran gehindert, sowjetischer Opfer hierzulande zu gedenken. Wie passt das zu dem Anspruch des Gedenkens?
Das läuft ihm zuwider. Denn bei den Feierlichkeiten geht es nicht um heutige Politik, sondern um das Gedenken an die damaligen Opfer
Sie erwähnten, die Möglichkeit, bei den Vereinten Nationen die Anerkennung des Völkermords zu fordern. Wieso geschah das nicht bei deren Gründung 1945?
Es gab damals den juristischen und politischen Begriff des Genozids beziehungsweise Völkermords noch nicht. Sein Urheber Raphael Lemkin, ein polnisch-deutscher Jurist, der bei Kriegsende in den USA lebte, verwendete ihn zwar bereits seit Ende 1944 und assistierte beim Nürnberger Prozess dem US-Ankläger Robert Jackson, aber er hatte nicht genügend Gewicht, um den Begriff Genozid durchzusetzen. So wurde im Urteil des Internationalen Militärgerichtshofs zwar formuliert, dass die NS-Führung den Plan hatte, die gesamte Bevölkerung Polens und der Sowjetunion zu vertreiben und zu vernichten, aber erst 1947 erarbeitete Lemkin für die UN einen Gesetzentwurf zur Bestrafung von Völkermord, der Ende 1948 verabschiedet wurde. Da herrschte bereits der Kalte Krieg, und die Sowjetunion galt wie vor dem Zweiten Weltkrieg als das bolschewistische Reich des Bösen. Das prägte die Einstellung im Westen zu ihr und ihrer Kriegsbeteiligung. In der BRD war der Mythos von der sauberen Wehrmacht vorherrschend, die Anerkennung eigener Schuld war politisch unerwünscht. Zudem stellte die Sowjetunion damals auch keine entsprechenden Forderungen. Sie sprach aus verschiedenen Gründen nicht von Völkermord.
Wie sah es in der DDR aus?
In der DDR war die Anerkennung des Völkermords faktisch da. In Entscheidungen von DDR-Bezirksgerichten ist der Begriff zu finden und formal sind diese Entscheidungen, sofern es nicht explizit Widerspruch gab oder die Urteile zurückgezogen wurden, bis heute in Kraft. Es gab in der DDR ein anderes Bild vom Zweiten Weltkrieg als in der BRD. Viele Menschen in der DDR sahen die Rote Armee als Befreier vom NS, im Westen war das anders. Darüber hinaus gab es in der DDR eine andere Erinnerungskultur mit Gedenkstätten, Gedenkveranstaltungen, einer engen Zusammenarbeit mit sowjetischen Behörden und gesellschaftlichen Organisationen. Ich denke, das prägt bis heute die Einstellung im Osten Deutschlands.
Interview: Fabian Linder
Ksenia Chepikovaist deutsch-russische Historikerin und Buchautorin. Sie arbeitet für die Stiftung »Digitale Geschichte« in Sankt Petersburg und ist korrespondierendes Mitglied der Kommission zur Erforschung des NS-Völkermordes an den Völkern der UdSSR in der Russischen Militärhistorischen Gesellschaft.
Am 8. Mai ist Ksenia Chepikova Referentin der jW-Veranstaltung zum 80. Jahrestag der Befreiung vom deutschen Faschismus (18 Uhr, Kino Babylon, Berlin)Weitere Informationen zum Programm und Tickets unter www.jungewelt.de/tagderbefreiung
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