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Aus: Ausgabe vom 26.04.2025, Seite 4 (Beilage) / Wochenendbeilage
Aslyrecht

Warten am Abschiebegleis

Wer Asyl erhalten will, wird erst einmal weggepfercht. Wer arbeiten will, wird am Ende ausgebeutet. Bericht aus einem deutschen Flüchtlingscamp
Von Eike Andreas Seidel
Leben im Provisorium: Ankunftszentrum für Geflüchtete in Gießen (11.10.2023)
Im Sommer heiß, im Winter stickig: Über Jahre müssen Asylsuchende in solchen Containern leben
Die Freude dürfte nach der erfolgreichen Flucht vor Gewalt und Krieg nur kurz dauern

Ein beliebiges Flüchtlingscamp in einer deutschen Mittelstadt. Vier Reihen Container mit Wohneinheiten zu drei Zimmern mit Küche und Dusche. Ein Stuhl pro Bewohner, ein Tisch in der Küche, ein Kühlschrank pro Zimmer. Vor einiger Zeit waren es zwei Betten pro Zimmer, aber dann hat eine andere Unterkunft gebrannt. Dort hatte ein Mann aus Äthiopien nach mehreren Jahren des Wartens Benzin ausgeschüttet und angezündet. Er selbst kam ums Leben. Die anderen mussten umverteilt werden. Auch hierher.

Nun sind es Dreibettzimmer. Der Landkreis wollte Zimmer mit zwei Doppelstockbetten ausrüsten. Aber der damalige Heimleiter protestierte: Dann könnten die Geflüchteten ja gar nicht mehr ordentlich sitzen. Ursprünglich sollte es in dem Camp einen Gemeinschaftsraum geben. Mit Tischen und Stühlen. Aber den hat ein früherer Hausmeister als Lagerraum zweckentfremdet. Also kein Gemeinschaftsraum, keine Tische, an denen Hausaufgaben gemacht werden könnten, an denen man sich abends zusammensetzen oder – unbekannter Luxus – fernsehen könnte.

Katastrophe auf Katastrophe

Die Einquartierung der durch den Brand obdachlos Gewordenen blieb nicht ohne Folgen: Einer, der wegen psychischer Probleme bislang ein Zimmer für sich allein hatte und der nun zwei Mitbewohner »zugeteilt« bekommen sollte, zündete seine Wohneinheit an. Der Brand wurde gelöscht, die Wohneinheit unbewohnbar. Für die Renovierung wurden auch die anderen Einheiten der Containerreihe geräumt: Die Versorgungsleitungen mussten komplett getauscht werden.

Dann die nächste Katastrophe: Der Heimleiter, der immer wieder den Rücken gerade gemacht hatte, verstarb plötzlich. Für viele der Bewohner war er Vertrauensperson. Vieles, was eigentlich Aufgabe des Sozialarbeiters gewesen wäre, wurde von ihm erledigt. Anträge an die Ausländerbehörde, Anträge auf Arbeitsgenehmigung, ein offenes Ohr für Pro­bleme im Zusammenleben der Bewohner. Lösungen für viele dieser Probleme. Wegen seiner Art war er schon einmal gekündigt worden. Zwei Jahre dauerte es, bis er sich wieder in die Stellung hineingeklagt hatte. Er müsse etwas vorsichtiger sein bei dem, was er sage, meinte er. Er war beliebt. 40 Tage stand vor seinem ehemaligen Büro ein Blumenstrauß mit einem Plakat: »Wir vermissen dich!«

Vermisst wird er vor allem in einer Wohneinheit von Afrikanern. Es ist gar nicht so leicht, sie zu besuchen. Es gibt keine Klingel an der Tür. Klopfen hilft meist nicht, auch nicht das Hämmern an das Fenster der trostlosen Küche mit einem Tisch, einem Stuhl, einer Spüle und einem Herd. Nichts weiter. Also hoffen, dass der, den ich besuchen will, sein Handy hört und es nicht ausgestellt hat, um endlich Schlaf zu finden.

Denn Schlaf ist etwas, was Christian schon lange nicht mehr kennt. Nach einigen Jahren in Schweden, wo er keine Aussicht auf Bleibe mehr hatte, kam er nach Deutschland. In Schweden war er – immerhin – zweimal operiert worden. Einmal die Gallenblase und ein anderes Mal noch ein Bruch der Bauchdecke. Nun also Deutschland. Erstaufnahme und Stellen des Asylantrags – das, was sie immer als erstes und/oder kleines Interview bezeichnen. Das war vor zweieinhalb Jahren. Der dortige Arzt verschreibt ihm ein erstes Psychopharmakon gegen seine Alpträume.

Dann Verlegung hierher. Er kommt aus Burundi, ist Tutsi, und von dort geflohen, als die politische Situation für Tutsi wieder gefährlich wurde, insbesondere für solche, die regierungsnah gearbeitet hatten. Seine Frau und die Kinder flohen nach Ruanda. Ich musste erst mal nachlesen: Tutsi und Hutu – das war doch der Völkermord der Hutu an den Tutsi in Ruanda 1993. Ach ja – als deutsche (und dann belgische) Kolonie hieß es ja Ruanda-Burundi. Bislang hatte ich zu Hause nur eine Musik-CD: Die Trommler von Burundi, ein fulminantes Feuerwerk, das ich immer wieder und völlig ahnungslos angehört hatte.

In dem Zimmer zwei Brüder aus Burundi und eben Christian. Ausländerrechtlich alle in demselben Schwebezustand; Asylantrag gestellt und seitdem Funkstille. Keine Einladung zum ausführlichen Interview zur Begründung des Asylantrags. Bei den beiden Brüdern dauert das Warten jeweils ein Jahr. Andere warten hier schon bis zu vier Jahre – warten, warten, warten … Einer der Brüder hat Arbeit gefunden: Jeden Morgen verlässt er um vier Uhr das Camp, um eine Stunde zu Fuß zum Bahnhof zu gehen. So früh fährt hier kein Bus, am Sonntag überhaupt nicht und abends nach 21 Uhr auch nicht.

Antrag um Antrag

Das bekommen alle hier zu spüren, die in Schichtarbeit bei Amazon die Waren in die Pakete werfen – die »Picker«. Es wird nicht mehr lange dauern, bis Roboterarme auch diese letzte stumpfsinnige Arbeit übernehmen, weil sie billiger geworden sein werden als diese Arbeitssklaven, die in der Saison am Bahnhof von konzerneigenen Bussen zum Auslieferungslager gekarrt werden. Die Picker der Frühschicht müssen die Stunde zum Bahnhof gehen, die von der Spätschicht dann den Rückweg.

Der zweite Bruder wartete monatelang auf seine Arbeitsgenehmigung. Er hat die Stellenbeschreibung Anfang August beim Ausländeramt als Voraussetzung abgegeben. Doch er wartet monatelang. Oft ist dann die Bereitschaft der Firma verflogen. So auch in seinem Fall: Das Okay kommt Mitte Dezember – eben zu jener Zeit, zu der Amazon wegen des Endes des Weihnachtsgeschäfts jedes Jahr seine Zeitarbeitskräfte in großer Zahl wieder entlässt – aus Arbeitsmangel. Aus der Traum vom selbstverdienten Geld. Die Entschuldigung des Leiters der Ausländerabteilung ist denkwürdig: »Die starke Verzögerung der Bearbeitung des Antrags … bitte ich zu entschuldigen. Ursächlich hierfür war primär eine längerfristige Erkrankung einer Kollegin. Der Antrag scheint hier untergegangen zu sein.« Was die »sekundäre« Ursache gewesen ist, bleibt im Dunkeln.

Doch der Traum vom selbstverdienten Geld ist fragil: Wer arbeitet, muss krankenversichert sein. Und verliert er die Arbeit, so bezahlen im Regelfall die Agentur für Arbeit oder das Jobcenter die Krankenkasse weiter. Krankenversicherung ist Menschenrecht. Nicht so bei Asylsuchenden: Da gibt es niemand, der automatisch die Krankenkasse weiterzahlt. All das: Der Antrag auf erneute Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und Übernahme der fortlaufenden Krankenkassenbeiträge durch die Ausländerbehörde stellt viele vor unüberwindliche Schwierigkeiten. Es wäre Aufgabe der Sozialarbeiter, hier zu helfen. Es gibt Dutzende von Fällen, in denen Asylsuchende nach dem Verlust der Arbeit vor einem Haufen Schulden an die Krankenversicherung sitzen. Schulden auch wegen falscher Gebührenforderungen zur Unterkunft. Wer arbeitet, muss sich an den Kosten der Unterkunft beteiligen, streng gestaffelt nach Höhe des Lohns. Nachzuweisen über Einreichung der Lohnabrechnung. Fehlt diese, so wird der Höchstsatz in Rechnung gestellt, auch wenn nur eine Woche gearbeitet wurde.

Eines Tages kommt Rodrigue an. Er wohnt nicht mehr hier, sondern ist näher zu seiner Arbeit gezogen. Er hat eine »Lohnpfändung« durch die AOK. Alles über 1.500 Euro Nettoverdienst wird zur Deckung der Schulden einbehalten. Bei ihm sind es etwa 1.000 Euro. Als er seine erste Arbeit verlor, hat ein Sozialarbeiter zwar dafür gesorgt, dass er erneut Asylbewerberleistungen bekam, sich aber nicht darum gekümmert, dass die Sache mit der Anschlussversicherung ordentlich geklärt wurde und auch hier der Landkreis leistet. Es wäre so leicht: Bei jedem, der nach Verlust der Erwerbstätigkeit wieder zurück in die Asylbewerberleistungen zurückfällt, ist das ein relativ einfacher bürokratischer Akt, der nur richtig angestoßen werden muss (und im Vertrauen: auch ohne weiteres automatisiert werden könnte). Im Landkreis gibt es mindestens 40 solcher Fälle mit teilweise mittlerweile erheblichen aufgelaufenen Schulden. Rodrigue hat Glück: Auf einfache Intervention eines Helfers werden seine Schulden bei der AOK vom Landkreis übernommen.

Auch für Christian ist sehr bald Schluss bei Amazon: Sein Knie macht nicht mehr mit. Fortgeschrittene Arthrose. Im Juli 2014 die Diagnose: Arthrose Grad III. Der Antrag auf eine Operation wird gestellt; parallel bringt eine Physiotherapie keinen Erfolg. Im November 2024 dann zehn Minuten Besuch beim Amtsarzt. Ende März die Ablehnung der Operation. Eine Anbindung an einen Orthopäden wird empfohlen plus Physio. Mitte April dann eine neue Diagnose des Facharztes: Die Arthrose sei zwar nicht OP-würdig, aber es wird neben Physio eine Orthese am betroffenen Knie verordnet sowie Einlagen zur Korrektur einer Fehlstellung der Füße. Also wieder einen Antrag zur Kostenübernahme für diese Hilfsmittel an die Ausländerabteilung. Diese wird den Antrag zur »fachlichen Begutachtung« an das Gesundheitsamt weiterleiten und dann entscheiden. Also wieder warten.

Und am Ende krank

Eine andere Arbeit ist aussichtslos: Er spricht neben Kirundi, der Amtssprache von Burundi, fließend Suaheli (Handelssprache in Ostafrika), Russisch, Französisch, Englisch, ein wenig Schwedisch. Er hat Betriebswirtschaft studiert, hat Auslandserfahrung in Moskau und Schweden, war im diplomatischen Dienst. Aber alle Bewerbungen auf einen Bürojob scheitern am mangelnden Deutsch und an seinem unsicheren Aufenthaltsstatus.

Doch das Knie ist nicht alles. Er leidet an Schlaflosigkeit, Bluthochdruck. Er schnarcht. So unerträglich laut, dass seine Zimmergenossen nicht zur Ruhe kommen und sich völlig übermüdet um vier Uhr in Richtung Bahnhof zur Arbeit aufmachen. Dreimal wird ein Antrag auf ein Einzelzimmer abgelehnt. Schnarchen begründe keinen solchen Anspruch. Die Begründung der Amtsärztin wird ihm erst nach Monaten und auf Anforderung zugeschickt. Sein Arzt sieht das anders, aber er ist machtlos. Einmal ruft Christian mich nachts an wegen starkem, nicht enden wollendem Nasenbluten. Mit dem Notarzt ins Krankenhaus. Ein Gespräch danach bringt es an Licht: Seine Angstträume, die ihm immer wieder den Bürgerkrieg in Ruanda vergegenwärtigen, werden ausgelöst vom Geruch des Bluts, dem Blut der von den Hutu auch an der Grenze zu Burundi abgeschlachteten Tutsi. Und dann schreit er nachts, schreit nach einem Gewehr. Nein, das ist kein einfaches Schnarchen. Es ist eine ausgewachsene Apnoe, Atemaussetzer mit Angstträumen.

Sein Arzt schreibt Überweisungen zum Psychiater wegen seiner Angstträume und zum HNO-Arzt wegen der Apnoe. Er macht aber wenig Hoffnung, da Hilfsmittel in den Gesundheitsleistungen gemäß Asylbewerberleistungen nicht vorgesehen sind. Und ob es einen Russisch, Englisch oder Französisch sprechenden Psychiater gibt, der absehbar Zeit hat – mehr als fraglich. Einen Psychiater finden wir nicht, wohl aber einen HNO-Arzt. Für April wird beim Landkreis ein Behandlungsschein angefordert, um den Termin wahrnehmen zu können. Drei Tage vor dem Termin ist er immer noch nicht da. Die Sozialarbeiterin, die immer mal wieder als Springerin in der Unterkunft arbeitet, macht wenig Hoffnung: Innerhalb von zwei Tagen sei da nichts zu machen. Doch da geschieht ein Wunder: Ein direktes Anschreiben an den Leiter der Ausländerbehörde führt innerhalb von drei Stunden zur Übersendung des Behandlungsscheins. Die Diagnose ist eindeutig: 20 Aussetzer pro Minute werden registriert, eine dringende Untersuchung im Schlaflabor wird angestoßen. Nun heißt es wieder warten, ob der Landkreis die Kosten für das Schlaflabor und dort dann verordnete Geräte übernimmt.

Zu all diesem Warten auf etwas, was irgendwann vielleicht einmal eintreten wird, kommt dann noch die Hilflosigkeit gegenüber dem Sozialarbeiter und Heimleiter. Als die drei mit Freunden auf dem Zimmer einmal eine Dose Bier öffneten, stand der Heimleiter sofort an der Tür. Alkohol verboten, haut ab! Und kehrte um zu einer anderen Wohneinheit, um genüsslich die ebenfalls in den Wohneinheiten verbotene Schischa weiterzurauchen. Als sich in der Unterkunft Kakerlaken breitmachten, forderte eben dieser Heimleiter die Bewohner auf, sie auf eigene Kosten durch Insektenspray vom benachbarten Baumarkt zu bekämpfen – ein Unding. Der von Helfern informierte Landkreis schickte sofort einen Kammerjäger – der Heimleiter wusch wie weiland Herodes seine Hände in Unschuld.

Keiner hat in dem Camp für etwa 150 Personen ein Einzelzimmer, kaum einer ein Doppelzimmer. Aus Burundi, Ghana, Gambia, Sudan, Guinea – sie fühlen sich hier wie der letzte Dreck. Es ist die Hierarchie des Knasts, der sie sich hilflos ausgeliefert fühlen. Eine Beschwerdestelle, einen Ombudsmann haben sie nicht, klammern sich an jeden Flüchtlingshelfer, der auch nur wenig bewirken kann.

Anfang Mai werden nun alle Uhren in den Unterkünften wieder auf null gestellt. Die bisherigen Betreiberfirmen (»Human care«, »Living Quarter« und wie sie alle heißen) werden ausgetauscht. Nicht alle bisherigen Heimleiter und Sozialarbeiter werden übernommen. Mit ziemlicher Sicherheit werden aber die gesamten Computersysteme ausgetauscht. Die neuen »Betreuer«, »Sozialarbeiter« fangen wieder komplett ohne dokumentierte Historie der einzelnen Bewohner an. Ob die vor einem Jahr abgebrannte Unterkunft dann immer noch als Symbol der Schande steht, bleibt abzuwarten.

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