Die Welt gegen mich
Von Ken MertenHolland säuft ab, Griechenland wird durch die Kontinentaldrift zerrieben, und der Permafrost taut auf: Allenthalben Apokalypse, die Literatur stürzt sich drauf. Allein in wie vielen der letzten Jahre die Welt absoff: In Roman Ehrlichs Roman »Malé« (2020), »Der Vorweiner« (2023) von Bov Bjerg und Elias Hirschls »Content« (2024), um nur drei Werke der letzten Jahre zu nennen, bei denen sich verdiente Autoren an feucht-trübe Climate-Fiction ranmachten. Allesamt Romane mit mehr oder minder großen Abstrichen. Vielleicht ja, weil Literatur, selbst wenn sie vom Untergang erzählt, einen Anfang mitverhandelt. Aber der ist hier ein »Weiter so«. Die Scheiße mit der Ausbeutung bleibt ungebrochen, nur in Hochwasserhosen und mit nassen Füßen. Ein Übermaß an Dystopie: Man wird nicht atmen können, aber wenn man sich schon Kiemen zulegen muss, dann doch wenigstens ohne Bullshitjob.
Auch in Joshua Groß’ Romanen rastet das Klima aus: 2022 stieg in »Prana Extrem« die Hitze unweigerlich an, die exotherme Reaktion darauf, dass sich da das 16jährige Skisprungtalent Michael mit seinem Schicksal zu arrangieren suchte. Weit weniger fügen sich die Figuren in Groß’ neuem, ebenfalls bei Matthes & Seitz erschienenen Roman »Plasmatropfen« in ihr Schicksal. Helen ist nur vom Brotberuf Malerin, eigentlich aber Superheldin mit telekinetischen Fähigkeiten: »Telekinese bedeutete bei Helen, dass sie in geringem Umfang weltverändernd agieren konnte.« Sie ist Mensch, nur ein bisschen mehr als der Schnitt. Unter Anstrengungen kann sie kleine Flecken Permafrost restaurieren; minimale Eingriffsmöglichkeiten, die sie unter Entscheidungsdruck stellen: »Warum widmete sie ihr Leben nicht unumwunden, ausschließlich der Wiedergefrierung des Permafrostes, beziehungsweise warum arbeitete sie nicht permanent mit ihren telekinetischen Kräften bis zur Erschöpfung gegen das Gegebene an? Warum malte sie? Niemand brauchte Bilder. Warum hatte sie ein Privatleben? Niemand brauchte Privatleben. Das kam ihr vor wie Praktiken, die ins Elend führen würden.« Das Leben als Aufgabe, Rastlosigkeit als Prämisse. Bob Marley hat einst unnötig zum bereits verbreiteten Doppelirrtum beigetragen, dass das Unheil nicht schliefe und man es demzufolge auch nicht dürfe. Die Welt als Kampf gegen sie, eins gegen eins, ohne Gong.
Helen aber ergibt sich nicht vollends der Vorstellung, sie habe 24 Stunden Dienst. Schließlich sind auch Kunst und Privatleben Fronten. Vor allem letzteres stellt sie vor Herausforderungen: Ihr Partner, der Seismologe Lenell, lebt im griechischen Egio, direkt auf einer Erdplattengrenze. Lenell geht es übel: »Jetzt bin ich ein brüchiges Gebiet aus verschiedenen chemischen Zusammensetzungen«, sagt er Helen nach einer Panne während eines Überraschungsbesuchs im Restaurant, nachdem er sich falsch selbstmediziert hat (später wird er sich per Exoskelett zusammenhalten lassen). »Weißt du was? Ich glaube, ich selbst bin die Verwerfungszone.«
Sich selbst zu betäuben versuchte schon Lenells »Kippmutter«, die sich regelmäßig in fremdaggressive Laune soff und Lenell und dessen kleinen Bruder mindestens mit psychischer Gewalt attackierte. Ein Knacks, der auf soziale Verhältnisse verweist, die bei Groß sonst fast völlig ausgeblendet sind: Klassenverhältnisse gibt es in »Plasmatropfen« nicht. Lenell jobbt parallel zu seiner Erdbebenforschung eher aus Amüsement und Sozialengagement als Ordner beim ambitionierten Frauenbasketballteam Egios. Auto und Motorboot kann er sich leisten. Heftig depressiv, bis in suizidale Episoden hinein, ist er trotzdem. Die Privatnutzung ihrer übermenschlichen Fähigkeiten, um Lenell von seiner Lebensmüdigkeit zu befreien, stellt Helen, sich selbst mit der Weltrettung beauftragt, vor eine schwere Aufgabe. Mit unklarem Ergebnis: Wer ist Lenell ohne seine Krankheit? Noch ihre Beziehungsperson?
Wie schon in »Prana Extrem« wird die Zweisamkeit trigonalisiert durch eine von außen kommende Figur: hier kein pubertierendes Skisprungtalent, sondern Spechtmensch, eine wohlhabende Chimäre, die auf einer Egio vorgelagerten Insel mit Hingabe Kiefern züchtet und auf turbinenbetriebenen Wellen surft. Er nimmt sich des tavorabhängigen und tendenziell von der jetsettenden Helen vernachlässigten Lenell an.
Die soziale Frage subjektiv gestellt: In Groß’ kippelnder Welt geht es nicht dem Ende entgegen. Die Protagonistinnen und Protagonisten machen weiter, stets abwägend, in was sie ihre Zeit investieren: ob in den Welteingriff, die Beziehungsarbeit oder die vergnügliche Reproduktion. Damit liefert er mit »Plasmatropfen« gleich das Begleitessay mit. Alles geht zu Bruch, aber man will ja lieber dichten und im Schatten der Bombe spielen. Womit? Mit Recht! »Helen dachte: Die Schlimmheit der Welt vollzieht sich unsichtbar – in verhüllter Korrumpiertheit, verschüttet von dem, was andauernd geifernd vorhanden ist und sich auftürmt. Das Problem ist, es funktioniert nicht, das Unsichtbare mit Unsichtbarem zu bekämpfen. Was hilft, ist ein Guerillakrieg, der unbeachtet in die Zone des Unsichtbaren eindringt und dort Bildgebungsverfahren entwickelt, die das Unsichtbare in die Sphäre des Sichtbaren drängt.« Um darauf Erbsensuppe überhaupt erst schmeißen zu können, braucht es vorher das Bild, auf das geschaut wird als eine produktive, eingreifende, über das Dargestellte hinausgehende Vermittlung der nicht zutage liegenden Verhältnisse. Eine Aufhebung, bei der man sich selbst nicht ausklammert: »Helen war sich klar darüber, dass der Guerillakrieg auch gegen sich selbst geführt werden musste.«
Und einen Guerillakrieg führt Joshua Groß bereits: den gegen die deutsche Literatur. Groß schreibt Schiefdeutsch als Premiumedition: Da »entpuppte sich eine Welle« hier, gibt es die »moorhaften, ihn hemmenden Gemütslagen« dort. »Abrieb« ist als »lenelliger« vollends individualisiert und Spechtmenschs Haus als »cézannig« stilistisch personalisiert. An grammatikalisch-syntaktischen Korrektheiten wird herumgebogen, wenn der Gram zum Femininum wird, Helen und Lenell eine Insel »bestarrten« und die beiden nicht dringlichst gebeten werden, nach Fehlverhalten aus dem Etablissement zu gehen, sondern ebenjenes »dringlichst und umgehend zu verlassen«. Dazu Dialoge von skurriler Intensität, durchzogen von Kälte- und Wärmeströmen, tektonisch verschoben; während des ersten Treffens des Pärchens auf Spechtmensch heißt es: »›Puh‹, sagte Helen plötzlich. ›Die Schnelligkeit, in der wir uns kennenlernen, während es Langsamkeit braucht, um einen Baum kennenzulernen.‹«
Sprache als spielbares, wandelndes Material, das hier, neben dem Ausdruck einer allgemeinen Nervosität dazu genutzt wird, darauf hinzuweisen, dass sich nie etwas reibungslos wandelt. Bisschen Schwund ist immer.
Joshua Groß: Plasmatropfen. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2024, 263 Seiten, 24 Euro
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