Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
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Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
Aus: Rosa & Karl, Beilage der jW vom 11.01.2025
Klassenkampf heute

»Ein Buch in den Kampf tragen ist wichtiger als eins zu schreiben«

Die Aktualität Lenins und Luxemburgs. Der Zustand der Linken. Die Lage der Herrschenden und Beherrschten. Ein Gespräch mit Dietmar Dath
Von Felix Bartels
Am zweiten Sonntag des Jahres findet der »rote Winterspaziergang« (Peter Hacks) statt: Im Gedenken der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 15. Januar 1919
Dietmar Dath ist Jahrgang 1970 und arbeitet als Redakteur, Essayist, Dramatiker und Romancier. Von 1998 bis 2001 war er verantwortlicher Redakteur des Magazins für Popkultur Spex. Von 2001 bis 2007 und seit 2011 wieder arbeitet er als Redakteur für FAZ.

Gehen wir mal 20 Jahre zurück. In »Für immer in Honig« haben Sie die Frage gestellt, wie man kämpft, wenn Kampf nicht mehr geht. In der verkehrten Welt, der nach 1990, regredieren die Helden: eine Profikillerin in die reine Praxis, ein Journalist ins reine Wort, und ein Dritter nimmt ehrlicherweise gleich Drogen. Im Szenario der Apokalypse stecken dann aber doch Möglichkeiten kommunistischer Praxis. Wie sehen Sie das heute? Die Apokalypse ist da, wo bleibt der Kampf?

Der vollblutbürgerliche Nobelpreisträger Robert Solow hat vor längerer Zeit aus Versehen den Nährboden für die derzeit entscheidenden ökonomischen Kämpfe zwischen Monopolen und lebendiger Arbeit entdeckt: »Überall Computer, nur nicht in den Produktivitätsstatistiken.« Der Satz ist übertrieben, aber als Tendenz an der Front, im Alltag, oft wahr. Die ökonomischen Lehren der Bourgeoisie finden solche Wahrheiten paradox, weil ihre Vertreter sich nicht vorstellen können, dass Leute ohne Kapitalbesitz die Intensivierung ihrer Ausbeutung auf dem Weg der Wegnivellierung von bislang qualifizierter, also lange besser bezahlter und stabiler Arbeit zur bloßen Hilfs- und Kontrollhuberei auf digitalen Galeeren nicht mögen. Im Moment sind das Bummelstreiks relativ Bessergestellter, aber es wird auch die Fabrik erreichen, wegen KI-gesteuerter Robotik. Die Monopole reagieren darauf: Aus der Welt der Tarifverhandlungen soll die Welt von Befehl und Gehorsam werden. Militarisierung ist also die heraufdämmernde Politikoption der herrschenden Klasse. Was nun das Militärwesen mit Revolutionen zu tun hat, steht in der Chronik der letzten hundert Jahre und in der Theorie bei Luxemburg wie Lenin. Noch ist das alles nachlesbar. Wer es nicht weiterverbreitet und auch sonst nichts daraus macht, und zwar bei jeder sich bietenden Gelegenheit, in jedem Laden, in dem die Leute die viel zu kurzen Pinkelpausen, die herumeiernden Quälkonferenzen und die dummen Teams-Nachrichten hassen, soll nicht über netzbasierte Verdummung, über träge Besitzlose oder über fehlende Kämpfe jammern.

Im Januar marschiert man zum Grab. Von Liebknecht und Luxemburg. Wenn Erinnern die verbleibende Form des Kampfs scheint: Aber das Erinnern daran, dass es veritablen Kampf geben muss, ist auch bloß Erinnern. Wie kommt man da raus?

Kampf besteht aus Aggression und Defensive unter gewussten Zweckbestimmungen. Komplizierte Kämpfe in und zwischen Gesellschaften brauchen komplizierte Zweckbestimmungen, man nennt sie »politische Programme«. Kämpfe um die richtige Art, die menschliche Gesellschaft zu produzieren und zu reproduzieren, sind komplizierte Kämpfe. Ohne Gesellschaft gehen Menschen ein. Um sie kämpfen müssen alle, selbst die Herrschenden. Man braucht Kraft für Aggression und Defensive, also z. B. Masse, viele Leute. Auch das gilt ebenso für die Herrschenden: Polizei, Armee. Und außer Kraft benötigt man das besagte Programm, dazu noch Strategien, die bei der Umsetzung des Programms das Terrain und die Epoche mitbedenken, sowie Taktik, die Strategie und Programm mit dem Moment verzahnt. Wer unter sehr vielen Leuten arbeitet, kann die Kräfte wecken und bündeln, per Agitation und Organisation, und wer weiter weg vom Alltag der meisten wirkt, kann zwar am Programm, an der Strategie und Taktik feilen, muss aber den Kontakt zu den meisten halten. Also, es ist alles wie vor der Niederlage vor mehr als dreißig Jahren. Und alle Fragen, die, weil Zeit vergangen ist und Gedächtnis erodiert, ein irgendwie neues Verhältnis zum Archiv suchen, kommen mir immer vor wie jemand, der einen Unfall mit dem Auto hatte, diesen überlebt hat und jetzt über den Sinn des Straßenverkehrs diskutieren will. Es ist wohl ein typisches Intellektuellenproblem: Man hatte Kraft und gute Ideen, man hat einen Kampf trotzdem verloren, da muss doch ein tiefer, tiefer Sinn dahinter sein, man ist schließlich Sinn-Fachkraft. Wenn ich einer Packerin bei Amazon mit so was komme, misstraut sie danach mit Recht jedem weiteren politischen Wort von mir.

Wenn man von der Aktualität Luxemburgs redet, muss man von ihrer Haltung zum Zusammenbruch der II. Internationale sprechen. Ist nicht im Frühjahr 2022 was ähnliches passiert, als weite Teile der Linken quasi über Nacht die Gewaltgeschichte der NATO-Mächte in einer einseitigen Kritik am russischen Überfall auf die Ukraine versenkten?

Wer massenhaften Mord unter Weltmarktbedingungen nur zu Angriff und Verteidigung in Beziehung setzt und nicht zu Angebot und Nachfrage, wer zwischen ökonomischen Krisen und Krieg keine Linien ziehen kann, ist weder links noch rechts, sondern produziert bestenfalls protopolitische Spieltheorie. Nach dem Kollaps der historisch folgenreichsten Linken, nämlich der klassischen Bewegung der lebendigen Arbeit zwischen DDR und UdSSR, war für westliche Beobachter eine Weile durch die Grellheit des Zerstörungsblitzes nur noch die vormals klar erkennbar rechte Hälfte der Weltpolitik übrig. Aber damit es auch im Fernsehen und in anderen Deppenmedien weiterhin eine Linke geben konnte, deren Existenz das Massenbewusstsein für gegeben halten muss, um sich einreden zu können, es habe eine Wahl (was als tragende Illusion der Massenloyalität zur Klassengesellschaft auch im Imperialismus seinen Sinn hat), teilte man die nach dem Zusammenbruch der großen Linken übriggebliebene Rechte in zwei Hälften und nannte die eine links und die andere rechts. Diese Idee kommt aus Amerika und ist böse. Man soll das nicht mitmachen, weder im Krieg noch bei einem grob unsittlichen Arbeitsvertrag unter den Parametern der sogenannten digitalen Transformation, den man unbedingt so behandeln sollte wie jede Erpressung, unter die man eine Unterschrift setzen muss, weil man sonst nicht wohnen und essen kann.

Der Konflikt zwischen linksliberalen und antiimperialistischen Linken erscheint eher als Symptom einer tiefer liegenden Spaltung. Zwischen einer Linken nämlich, die – gegen Luxemburg, Liebknecht, Lenin – Anschluss sucht an diese oder jene globale Konfliktpartei und einer fast verschwundenen Minderheit, die es mit dem proletarischen Internatio­nalismus hält. So weit, so leninistisch. Aber ist das vielleicht zu rein gedacht? Muss man nicht auch in den Konflikten des imperialistischen Zeitalters Gewichtungen vornehmen?

Wenn ich einen Arsch in der Hose habe, kann ich Gewichtungen vornehmen. Von der Parteinahme winziger Sekten, vereinzelter Publizistinnen oder Publizisten und irgendwelcher Netztrolle hängt nur ein bisschen Stimmung ab, sonst nichts. Proletarischer Internationalismus ist ein hoher Anspruch, ich wäre schon mit weniger Illusionen zufrieden, und dass es eine Linke dahin gebracht hat, ließe sich daran erkennen, dass sie bei ihren Einordnungen von Nachrichten bei ihrer Sache bleibt: der Benennung der Praxis derjenigen Klasse, die jeweils da herrscht, wo die besagte Linke sich beherrschen lassen muss. Ich finde gar nicht immer so dumm, was die von Illusionen verwirrten Linken so reden. Aber warum lassen so viele sich jeden Tag, jede Minute, jeden Nachrichtenzyklus lang diktieren, worüber (nicht: was) sie überhaupt reden? Der jeweilige Hashtag wird ausgegeben, und sofort stellt man sich irgendwo dazu, ich bin bei den lila Leuten, du bist bei den veilchenblauen. Redet doch über das Programm und seine Schicksale in der Geschichte, bitte. Das Programm ist immerhin einzigartig, weil es nicht am Schreibtisch (deutsch: Desktop) entstanden ist, sondern in den Fabriken des neunzehnten Jahrhunderts und in allem, was aus ihnen folgte. Nur wer die Linie von ihnen bis ins Home­office der Drohnenprogrammiererin ziehen kann, hat das Gesamtbild.

Es gibt ja nichts, das es nicht gibt. Es wäre unmöglich, Luxemburg in den Dienst des Antikommunismus zu nehmen. Sie war da unmissverständlich. Dennoch haben Links­liberale das immer wieder versucht. Biermann in Köln 1976, die Regime-Change-Fraktion im Januar 1989, die braven Bewacher des 2006 installierten Gedenksteins für die Opfer des Stalinismus. Wird die Differenz zwischen Luxemburg und Lenin überbetont?

Wir haben erlebt, dass sich Steve Bannon auf Lenin berief. Wir werden noch erleben, wie irgendein Elon-Musk-Fan sich gegen Gewerkschaften mit dem Luxemburg-Argument, zu viel straffe und zentrale Organisation ersticke die politische Spontan­kreativität der lebendigen Arbeit, spreizen wird. Vielleicht liest ein Google-Gangster gerade Stalin über Arbeitszeitverkürzung und nickt. Das sind alles Grillen und Ornamente. Luxemburg hätte drauf gespuckt, Lenin auch, diese Gemeinsamkeit ist in der Tat wichtiger als beider Differenzen. Aber diese Differenzen bleiben wichtig zu studieren, da sie nur artikuliert werden konnten, weil es halt doch Gemeinsamkeiten der beiden gab – nur wer weiß, was Obst ist, kann eine Unterscheidung zwischen Äpfeln und Birnen artikulieren, die interessanter ist als die zwischen Äpfeln und Steinen oder zwischen Birnen und Wochentagen. Die historische ­Diskussion über Gedanken zu Kämpfen ist an die Auswertung der Kämpfe geknüpft. Diese Auswertung hat die marxistische Linke schleifen und verludern lassen. Sie bevorzugt das Zusammenzimmern einer Lehre, nach der sie dann den Kämpfenden der Vergangenheit Noten gibt. Das sollte mal aufhören.

Es gibt eine Stelle bei Lenin, wo er sich wundert, dass die Dialektikerin Luxemburg bei ihrer Kritik an der Russischen Revolution ganz mechanisch wird, indem sie das westeuropäische Setting über die Verhältnisse in Russland legt. Steckt aber nicht in jeder Aktualisierung eine solche Übertragung? Auch bezogen auf Lenin?

Jeder richtige Gedanke wird abstrakt und brüchig, wenn er sich nicht im Leben bewähren muss. Aber mal ein Beispiel dafür, wie wenig mechanisch Lenin ticken konnte: 1913, nach einer verkackten russischen Revolution und vor der gelungenen, die noch nicht abzusehen war, schrieb er einen Aufsatz namens »Ein großer Sieg der Technik« über ein neues Verfahren der Gasgewinnung aus Steinkohlen­flözen. Sofort denkt Lenin da über die Möglichkeit der Einsparung einer gewaltigen Menge menschlicher Arbeit nach, und im selben verdammten Atemzug sagt er, wenn aus dieser Sache was wird, dann machen die Kapitalisten daraus Massenarbeitslosigkeit und Erpressung der noch Beschäftigten. Jeder, der sich links nennt und im Internet mitquatscht, sollte genau so, exakt hundertprozentig so, über das Internet reden und den Zusammenhang zwischen Teams-Nachrichten, Push-Meldungen, White Papers der Europäischen Kommission und NATO-Thinktank-Zeug permanent ins Relief heben, bis alle, die das mitkriegen, im Schlaf wissen, wie das Gelände aussieht, auf dem sie sich dann entweder gegen ihre Verwurstung zu Datenmatsch wehren oder eben leider nicht.

Lenin steht, wofür immer er sonst steht, dafür, eine Sache ernstzunehmen. Vielleicht ist eben das der rote Faden, der der heutigen Linke fehlt: Wokeness, ihre konservative Gegenbewegung, Primat der Ideologiekritik, Primat der Außenpolitik – das und dergleichen sind Spielarten des Identitätspolitischen, eher Performance denn Praxis. Muss man zurück zum guten alten Hauptwiderspruch? Geht das überhaupt noch?

Man muss zurück zu den Leuten, die den Hauptwiderspruch andauernd erleben, nicht zum Hauptwiderspruch als Idee. Redet mit den Transportausgebeuteten, auch wenn die zu platt reden und ihr zu hochgestochen. Einen Gedanken aus einem Buch in einen Kampf zu tragen ist viel schwieriger und viel wichtiger als ein neues brillantes Buch zu schreiben. Aber wenn man nichts hat als den Buchschreibe-Job, soll man wenigstens Bücher schreiben, in denen steht, dass die Ideen mehr sind als Ideen. Irgendwer greift irgendwann danach oder nicht. Klügere als wir haben sich vergeblicher abgemüht als wir. Nichts ist fair, aber aufgeben ist Endstation.

Als lähmend erweist sich auch das Erstarken der Rechten. Es führt einerseits zu einer Art Staats­antifa, die im Kampf gegen die AfD alle anderen Fragen liquidiert, die Linke also ins bürgerliche Lager führt. Andererseits gibt es Linke, die glauben, klassisch rechte Themen besetzen zu müssen. Ist das nicht der eigentliche Rechtsruck, viel mehr als der Aufstieg der Rechten selbst? Also das Abwandern von klassisch linken Positionen, weil man meint, auf die Gefahr von rechts reagieren zu müssen?

Höcke redet, als könnte er Deutschland aus dem Weltmarkt holen. Will er Autarkie, will er den Planeten erobern? Das wären die beiden Optionen, wenn er »die Deutschen« aus den Prozessen retten will, die überall alle drangsalieren, die kein Kapital besitzen. Wieso sagen wir das denen nicht ein bisschen strenger, die ihm glauben wollen, statt ihr in der Tat verkommenes, asoziales Stammes-Egoismus-Scheißzeug therapeutisch oder moralisch mit ihnen durchzudiskutieren?

In ein paar Tagen wird Trump wieder im Oval Office sitzen. Nun wird man die Demokraten nicht als linke Partei bezeichnen können. Aber das Muster ist ähnlich, sogar deutlicher: Biden hatte das Glück, dass die Leute bei seiner Wahl vier Jahre Trump in den Knochen hatten, doch ebenso wie Clinton und Harris hat er einen Wertewahlkampf geführt, mit der Gefährdung der Demokratie als zentralem Argument. Im Rust Belt, wo die Leute echte Probleme haben, hat das kaum wen erreicht. Ist es ein bisschen billig, oder stimmt es tatsächlich zu sagen, dass wir, wenn wir in die USA blicken, in unsere Zukunft blicken?

Der bestimmende Unterschied ist nicht einer zwischen echten und ausgedachten Problemen, sondern zwischen einerseits der falschen Idee, man müsse sich bei zweierlei Scheiße für eine entscheiden, und andererseits der richtigen Idee, man könnte sich überlegen, wie das mit dem lachenden Dritten funktioniert, wo zwei sich streiten. Finde heraus, was die Macht von dir will. Noch vernichtet sie die Leute nicht einfach alle, also will sie irgendwas, und da sie ziemlich erfolgreich, also vermutlich illusionsarm agiert, braucht sie irgendwas von denen, die sie anlügt, verwirrt, verblöden lässt. Der Wille der Erfolgreichen ist das Bewusstsein ihrer tatsächlichen Bedürfnisse. Was braucht also die herrschende Klasse? Wie enthält man es ihr vor, wie nimmt man es ihr weg, wie erpresst man sie? Alle Revolutionen sind gelungene Schläge gegen Schwachstellen des Starken. In einer präsidialwahlkampforientierten Fernsehdebatte zwischen einem Impulsirren und einem Wackelgreis wird man diese Schwachstellen nicht finden. Sie liegen nicht in den Differenzen zwischen Republikanern und Demokraten, sondern im Katalog der Funktionen, die Republikaner, Demokraten, AfD und Grüne im Monopolkapitalismus erfüllen.

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