Kant, der Frieden und das Völkerrecht
Von Hermann KlennerDer vorliegende Text ist ein Auszug aus einem freigesprochenen Vortrag, der am 11. April 2024 auf der Jahrestagung der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin gehalten wurde. (jW)
Der am 22. April 1724 geborene und am 12. Februar 1804 verstorbene, eher kleinwüchsige Immanuel Kant war ein Großdenker. Er ist der in der Gegenwart meistzitierte Philosoph der Weltliteratur. Hölderlin hielt ihn gar für den »Moses unserer Nation«.¹ Jedenfalls leitete er mit Fichte, Hegel und Feuerbach den von Leibniz begonnenen Denkweg ein, der schließlich zu Karl Marx führte. Ohne dessen Vorausgang wäre der deutsche wissenschaftliche Sozialismus nie zustande gekommen, war die Meinung von Friedrich Engels, der auch Lenin (der übrigens Kants Werke mit in die Verbannung nahm) zustimmte.²
Zwischen seinem sechzigsten und seinem fünfundsiebzigsten Lebensjahr hat sich dieser Kant zu keinem Problem häufiger geäußert als zu der Frage, wodurch das nach seiner Meinung größte Übel der Völker, der »kontinuierliche Krieg« zwischen ihnen, in einen »immerwährenden Frieden« überführt werden könne.³ Zu diesem – damals wie erst recht heute! – Fundamentalproblem der Menschheit hat er sich in mindestens acht verschiedenen seiner Schriften geäußert,⁴ sowie 1795 in einem in zunächst zweitausend Exemplaren verbreiteten selbständigen Traktat von 104 Seiten: »Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf«, von dem ein Reprint in der DDR (Berlin 1985) erschienen ist.⁵ Angestoßen wurde Kants Friedensprojekt durch den im April 1795 abgeschlossenen Friedensvertrag zwischen der revolutionären Republik Frankreich und der konterrevolutionären Monarchie Preußen. Kant hatte zuvor schon gegen die Einmischung des Landes, dessen Bürger er war, in das Experiment der Französischen Revolution unzweideutig Stellung bezogen.
Für Kant war die durch die Vernunft a priori gebotene friedliche Gemeinschaft aller Völker auf Erden kein bloß moralisches, sondern ein geschichtlich gebotenes Rechtsprinzip:
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Das kriegerische Morden der Menschen durch ihresgleichen hielt Kant weder für ein durch deren angeborene Triebausstattung bedingtes Verhaltensmuster noch für eine göttliche Mission zur Bestrafung sündiger Gemeinschaften, sondern charakteristisch nur für vorübergehende Phasen der Menschheitsentwicklung, und zwar während ihrer barbarischen Zeiten. Von Natur aus seien die Völker zu einer fortschreitenden Koalition in einer weltbürgerlichen Gesellschaft bestimmt. Nicht auf den Edelsinn der Völker setzte Kant, sondern auf deren Einsicht in ihren Eigennutz.
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Sodann erklärte Kant die Kriegsentstehung wie die Kriegführung aus den Interessen der Obrigkeiten, womit er das Interesse am Frieden dem Volk zuordnete. Mit der Staatenpflicht zum Frieden korrespondiert bei ihm das Menschenrecht auf Frieden. Daraus lässt sich ein pazifistischer Imperativ erschließen: Jeder Staat solle in seinem Inneren so organisiert sein, dass nicht die Staatsoberhäupter, sondern das Volk die entscheidende Stimme hat, ob Krieg sein solle oder nicht.
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Damit hat Kant neben dem Wechselverhältnis zwischen inner- und zwischenstaatlicher Gewaltherrschaft eben auch das Wechselverhältnis zwischen inner- und zwischenstaatlicher Freiheitsverwirklichung thematisiert. Seine Idee einer mit dem natürlichen Recht jedes Menschen übereinstimmenden Verfassung, dass nämlich die dem Gesetz Gehorchenden zugleich die das Gesetz Gebenden sein sollen, sei die ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung überhaupt wie für den ewigen Frieden.
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Schließlich zeigt sich in der Option Kants für eine »Föderation nach einem gemeinschaftlichen Völkerrecht«, dass er seinen allseits bekannten kategorischen Imperativ »Handle so, dass du wollen kannst, deine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden«⁶ vom Gegenstandsbereich des zwischenmenschlichen auf den der zwischenstaatlichen Beziehungen transferiert hat, eine Übertragung, die wenig beachtet worden ist und wird.
Diese auf die Gemeinsamkeit der Völker und ihrer Interessen orientierende Friedenskonzeption Kants steht im Einklang mit den Grundprinzipien des heutigen Völkerrechts, wie sie in der Präambel und im Kapitel eins der Charter of the United Nations vom 26. Juni 1945 formuliert wurden. In ihnen heißt es unter anderem: »We the peoples of the united nations determined (…) to reaffirm faith, (…) in the equal rights of men and women and of nations large and small (…) The purposes of the united nations are (…) To develop friendly relations among nations based on respect for the principle of equal rights and self-determination of peoples and to take other appropriate measures to strengthen universal peace«.⁷
Diese Übereinstimmung zwischen den Grundprinzipien des Völkerrechts der Gegenwart, wie sie am Beginn der UN-Charta von 1945 formuliert sind, und dem auf das friedliche Miteinander der Völker zielenden Gedanken von Kant hat gewiss dazu beigetragen, dass Russlands Präsident Wladimir Putin 2021 per Dekret verfügte, Immanuel Kant anlässlich seines anstehenden 300. Geburtstages ausgiebig zu würdigen und das Haus, in dem Kant einst tätig war, mit Mitteln des Präsidenten wiederaufzubauen. Vielleicht spielte dabei auch die Erinnerung daran eine Rolle, dass sich in den Jahren 1758 bis 1763, als Königsberg unter russischer Besatzung stand, russische Offiziere von Immanuel Kant unterrichten ließen, dessen »Critik der reinen Vernunft« übrigens im russischen Kaiserreich publiziert wurde. Im Juli 2005 erklärte jedenfalls Putin bei einem Besuch an Kants Grab, dass Russland versuchen werde, sich an Kants Friedensvision zu halten. Gleichzeitig wurde der in Kaliningrad (dem früheren Königsberg) liegenden Universität in Anwesenheit von Putin und des deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder der Ehrenname Immanuel-Kant-Universität verliehen. (Nicht verschwiegen werden soll, dass Anton Alichanow, Gouverneur der Region Kaliningrad, auf einer wissenschaftlichen Konferenz Kant als einen der spirituellen Schöpfer des modernen Westens charakterisierte, der »den deutschen Willen aufpumpte und ihn gleichzeitig von Gott und höheren Werten abschnitt«, wodurch er eine direkte Beziehung zum gegenwärtigen globalen Chaos samt dem militärischen Konflikt zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine habe.⁸)
Der Einklang von Kants Friedenskonzeption mit den zu Beginn ihrer Charta formulierten Grundsätzen der Vereinten Nationen (und damit des Völkerrechts der Gegenwart) darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass wichtige Folgebestimmungen der UN-Charter ihren zuvor formulierten Grundsätzen (und damit Kant) widerstreiten. Von ihrem Grundprinzip einer Gleichberechtigung aller Nationen (»ob groß oder klein«) wird insofern abgewichen, als laut Artikel 23 der UN-Charta, also von Anfang an, fünf Staaten, nämlich: die Republik China, Frankreich, die Union der sozialistischen Sowjetrepubliken, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland sowie die Vereinigten Staaten von Amerika, als ständige Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen mit dominanten Sonderrechten ausgestattet sind. Auch die als berechtigt ausgegebene Vorrangstellung der USA gegenüber dem Rest der Welt (»America first«) widerstreitet ebenso wie die Bereitwilligkeit der EU und der NATO, sich diesem Anspruch unterzuordnen oder ihn gar bereitwillig zu exekutieren, der UN-Charter wie den Gleichberechtigungsvorstellungen Kants für alle Völker.
Vor allem aber widerstreitet – beginnend mit dem Atombombenabwurf der USA auf Hiroshima am 6. August 1945 – die völkerrechtswidrige Praxis vieler Staaten der ursprünglichen Friedenskonzeption der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945; sie widerstreitet damit auch Kant. Die Bemerkung Albert Einsteins, des bedeutendsten Physikers der vergangenen Jahrhunderte, »Internationales Recht gibt es nur in den Lehrbüchern zum internationalen Recht«,⁹ ist zwar resignativen, aber wahrheitsfähigen Charakters. Ganz ähnlich hatte der Literaturwissenschaftler Victor Klemperer schon zu Beginn des Ersten Weltkrieges das Völkerrecht als eine »Vogelscheuche« bezeichnet, die selbst »der dümmste Spatz« nicht ernst nehme.¹⁰
Solche Totalnivellierungen kommen einem in den Sinn, wenn man den Vietnamkrieg der USA von 1964 bis 1975, die Afghanistan-Okkupationen durch die Sowjetunion von 1979 bis 1989 und durch die USA samt NATO von 2001 bis 2021, den Golfkrieg von 1990/91, die Jugoslawien-Bombardierungen durch die NATO von 1999 (mit der ersten Kriegsbeteiligung Deutschlands seit 1945!) und jetzt den seit einigen Jahren von Russland geführten Aggressionskrieg gegen die – vom »Westen« seit Jahrzehnten antirussisch forcierte – Ukraine oder Israels Verbrechen in Gaza ins Kalkül zieht. Es sind allesamt völkerrechtswidrige Brutalsthandlungen mit mehreren Millionen Toten, begangen von Mitgliedern der Vereinten Nationen.
Die illegalen Kriege wurden und werden auch mit illegalen Methoden geführt, wofür die »capture or kill policy«, der Einsatz von Drohnen sowie die in Abu Ghraib, Guantanamo Bay und anderswo planmäßig verübten Verletzungen des völkerrechtlich absolut gesetzten Folterverbots zeugen (Artikel zwei der Convention Against Torture von 1984: »No exceptional circumstances whatsoever, wether a state of war or a threat of war (…) may be invoked as a justification of torture«).¹¹
Eine hilfreiche Kant-Lektüre bei der Analyse des gegenwärtigen, völkerrechtswidrigen Weltkriegsgeschehens in Osteuropa und im Nahen Osten, speziell in Palästina und Israel, wird freilich kaum jemand von den uns beherrschenden Politikern erwarten. Der vom deutschen Bundeskanzler Dr. jur. Olaf Scholz auf Einladung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am 22. April 2024 in Berlin gehaltene Jubiläumsvortrag anlässlich des 300. Geburtstages von Immanuel Kant hat die gegenwärtige ideologische, finanzielle und militärische Kriegsbeteiligung der BRD nicht als der Gedankenwelt Kants widersprechend charakterisiert.¹² Nicht der Frieden mit Russland, sondern der Sieg über Russland ist das Anliegen des auf einen »funktionierenden Kapitalismus« erpichten Kanzlers Scholz, der in mehr als einem Dutzend Redepassagen Präsident Putin attackiert, unter dessen Oberbefehl Russland »seinen neoimperialen Angriffskrieg gegen die Ukraine« begonnen habe, um sich gegen die »angebliche Aggression des kollektiven Westens zu verteidigen«. Dabei ist Kant für Scholz lediglich eine Konfrontationsfigur.
Schon als Scholz im Oktober 2022 mit dem an der privaten Harvard-Universität lehrenden US-amerikanischen Philosophieprofessor Michael Sandel über das »Gemeinwohl« diskutierte (was in voller Länge auf Youtube gesehen und gehört werden kann), blieben die historischen Hintergründe der aktuellen Kriege samt deren Gründe und Ursachen ebenso wie das Gegenwartsverhältnis von Privateigentums- und Kriegsinteressen sowie die menschenrechtswidrige Funktion des Chauvinismus ausgespart.
Die auf einen Sieg über Russland orientierende gegenwärtige BRD-Regierung verwendet ihre ökonomischen, militärischen, diplomatischen und ideologischen Mittel nicht, um gezielt zur Friedensherstellung in völkerrechtswidrig sowohl begonnenen wie geführten Kriegen anderer Staaten beizutragen. Durch Geldüberweisungen und Waffenlieferungen ohne Ende an die Ukraine und Israel beteiligt sie sich – zwar nicht juristisch, wohl aber soziologisch – an diesen Kriegen. Wir sind mitten in einem Weltkrieg.
Anmerkungen
1 Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke, Berlin 1959. Bd. 6, S.327
2 Marx/Engels: Werke, Bd. 7, Berlin 1960, S. 541 (MEGA I/24, S. 382); Lenin: Werke, Bd. 5, Berlin 1955, S. 381; Register zu Lenins Werken, Band II, Berlin 1964, S. 245; N. K. Krupskaja: Erinnerungen an Lenin, Berlin 1960, S. 44
3 Immanuel Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 8, Berlin 1912, S. 120 f.
4 Immanuel Kant: Rechtslehre. Schriften zur Rechtsphilosophie. Hrsg. v. Hermann Klenner. Berlin 1988, S. 160–173, 279–338, 474–480, 508–516
5 Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Mit Texten zur Rezeption 1796–1800. Leipzig 1984
6 Immanuel Kant: Rechtslehre. Schriften zur Rechtsphilosophie. Berlin 1988, S. 283, 327, 418
7 Völkerrecht, Dokumente, Teil 1: 1883–1949, Berlin 1980; Christian Tomuschat/Christian Walter (Hrsg.): Völkerrecht (zweisprachiger Dokumentenband). Baden-Baden 2016.; Norman Paech/Gerhard Stuby: Völkerrecht und Machtpolitik, Hamburg 2013
8 Anton Alichanow: Kant und seine Philosophie. In: Pax Report, Nummer 1, 2024, S. 3–6
9 Alice Calaprice (Hrsg.): Einstein sagt. Zitate, Einfälle, Gedanken. München/Zürich 1997, S. 272
10 Victor Klemperer: Curriculum vitae. Bd. 2. Berlin 1989, S. 198
11 K. Greenberg: The Torture Debate in America. New York 2005, S. 98–110
12 »Rede von Bundeskanzler Scholz beim Festakt zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant am 22. April 2024 in Berlin«, in: Pax Report Nummer 1, 2024, S. 6–9
Hermann Klenner, Jg. 1926, war Professor für Rechtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Hochschule für Ökonomie Berlin und am Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR. Von 1984 bis 1986 leitete er die Delegation der DDR bei der UN-Menschenrechtskommission in Genf. Klenner gilt als einer der bedeutendsten Rechtsphilosophen im deutschsprachigen Raum
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