Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: (Post-)Kolonialismus, Beilage der jW vom 26.02.2025
Kolonialismus und Postkolonialismus

Mörderische Tradition

Der Kolonialismus hat Deutschland tiefer geprägt als weithin angenommen
Von Jörg Tiedjen
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Nicht allein die DDR mit ihrem antifaschistischen Selbstverständnis, auch die BRD besaß im »globalen Süden« lange einen Vertrauensvorschuss. Zwar hat Deutschland mit dem Zweiten Weltkrieg das größte Massenschlachten der Geschichte zu verantworten, aber an einem Menschheitsverbrechen, so hieß es oft, war es nur am Rande beteiligt: dem Kolonialismus. Allerdings handelt es sich dabei zumindest um Selbstbetrug. Es stimmt zwar, dass im Ersten Weltkrieg die Besitztümer in Afrika und anderen Weltregionen verlorengingen, die das Deutsche Reich auf der Berliner Kongo-Konferenz 1884/85 für sich beansprucht hatte. Doch weder hatte der deutsche Kolonialismus mit diesem Datum begonnen, noch endete er damit, und nicht nur das: Es lässt sich eine Traditionslinie bis in die Gegenwart ziehen, mit dem Faschismus als grausigem Kulminationspunkt.

Institutionelle Kontinuität

In der deutschen Hauptstadt war das koloniale Erbe lange Zeit kaum verhüllt. Im sogenannten Afrikanischen Viertel im Stadtteil Wedding sind die Straßen bis heute nicht allein nach den ehemaligen deutschen »Überseegebieten« benannt. Mehr noch leben ausgerechnet dort zahlreiche Menschen afrikanischer Herkunft, die auch eine eigene Infrastruktur aus Kulturvereinen, Läden und Restaurants aufgebaut haben. Vor einigen Jahren ausgetauscht wurde dabei ein Schild, das Passanten einer Kleingartensiedlung an der Togostraße eine »Dauerkolonie Togo« ankündigte. Auch wurden Plätze und Straßen, die etwa an die Kolonialisten Carl Peters und Gustav Nachtigal erinnerten, auf Initiative des Vereins Berlin Postkolonial umbenannt in Manga-Bell-Platz, Anna-Mungunda- und Maji-Maji-Straße.

Über Bauten, Denkmäler und Straßenbenennungen hinaus gibt es aber auch institutionelle Kontinuitäten. Das gilt nicht zuletzt für Hamburg, der größten deutschen Hafenstadt, die eine Schlüsselrolle bei deutschen Kolonialunternehmungen gespielt hat. Mehrere Fakultäten der Hamburger Universität sind aus Instituten hervorgegangen, die einmal dem deutschen Streben nach einem »Platz an der Sonne« zuarbeiten sollten, insbesondere aus dem in der Hochphase des Imperialismus gegründeten Deutschen Kolonialinstitut. Das 2004 ins Leben gerufene German Institute for Global and Area Studies (GIGA) wiederum knüpft an die Arbeit des Deutschen Übersee-Instituts an, das in den 1960er Jahren zur Fortführung unter anderem des 1934 unter der Naziherrschaft von deutschen Industrieunternehmen initiierten Orient-Instituts ins Leben gerufen worden war.

Das GIGA sieht sich heute als »Quelle sozialwissenschaftlicher Spitzenforschung zum globalen Süden und globalen Entwicklungen«, wie es auf seiner Webseite heißt. Das verschleiert allerdings, in welchem Maße die von ihm betriebene Politikberatung interessengeleitet ist. Das wurde besonders deutlich im Vorfeld des sogenannten arabischen Frühlings 2011. Noch kurz zuvor hatte das GIGA die Situation in Nordafrika und dem Nahen Osten eklatant falsch eingeschätzt, indem die Autoren Sigrid Faath und Hanspeter Mattes ausgerechnet Tunesien aufgrund seiner säkularen Verfassung und »fortschrittlichen Politik« als das stabilste Land der Region einschätzten, während sie das Königreich Marokko wegen seines absolutistischen Regierungssystems als möglichen Unruhefaktor identifizierten. Als dann aber ausgerechnet Präsidialdiktaturen mit der tunesischen an erster Stelle gestürzt wurden, änderte das GIGA seine Expertise und begann nun Monarchien als besonders stabil anzusehen.

Faschismus keine Ausnahme

Institutionelle Kontinuitäten gibt es auch in der nordhessischen Kleinstadt Witzenhausen, in der 1898 die erste deutsche Kolonialschule gegründet worden war. Dieser Fall ist zudem deswegen interessant, weil er den Zusammenhang zwischen Kolonialismus und Faschismus aufzeigt. Schließlich wurde in Witzenhausen nicht allein über das Ende des Ersten Weltkriegs hinaus Personal für die Arbeit in Übersee ausgebildet, was auch Unterricht in sogenannter Rassenkunde und anderen Pseudowissenschaften beinhaltete. Witzenhausen war auch das Einfallstor für den Faschismus in der Region, indem dort früh eine Ortsgruppe der Nazipartei gegründet wurde. Heute kann man in Witzenhausen ökologische Landwirtschaft studieren, und der Ort hat ein internationales Flair. Doch gleichzeitig ist die Region mit dem angrenzenden Thüringen, in dem der ehemalige Witzenhäuser Schüler und Mongolei-Forscher Hermann Consten an Fememorden des deutschnationalen »Stahlhelms« an Linken beteiligt war, wie die Journalistin Doris Götting 2012 in ihrer Consten-Biographie »Etzel« festhielt, heute wieder ein Aufmarschgebiet der äußersten Rechten.

Auch wenn Deutschland mit dem Kriegsende 1918 seine »Überseegebiete« verlor, beteiligte es sich weiter an Kolonialunternehmungen. Aber wer hat jemals von der deutschen Rolle im Rifkrieg 1921 bis 1926 in Marokko gehört? Man muss sich vorstellen, dass die ehemaligen Kriegsgegner damals zuließen, dass Berlin Giftgas an Spanien lieferte und auch eine entsprechende Fabrik bei Madrid bauen ließ, um den Iberern zu helfen, den Befreiungskampf der Rifkabylen unter dem Emir Mohammed ben Abdelkrim Al-Khattabi niederzuschlagen. Wenn es um die Unterdrückung von Kolonialvölkern geht, halten die europäischen Mächte eben über alle Schützengräben hinweg zusammen. In seinen Kolonialkriegen in Libyen und Äthiopien setzte auch das faschistische Italien chemische Kampfmittel ein. Der deutsche Militärattaché in Rom Wolfram von Richthofen schrieb dazu 1929 in einem Lagebericht, dass in Libyen die gleiche Strategie verfolgt werde, wie sie sich »im Hottentotten- und Herero-Aufstand in Deutsch-Südwest-Afrika schließlich als einzig erfolgreiche herausgestellt und bewährt habe. Das Verfahren erforderte zwar für jede Operation lange Vorbereitungen, versprach jedoch durchschlagende Vernichtungserfolge.« Richthofen war später Stabschef der Nazi­truppen im Spanienkrieg und am 1. September 1939 für die Bombardierung und Zerstörung der polnischen Stadt Wieluń verantwortlich. Dieser mörderische Traditionsstrang, der von den deutschen Kolonialbestrebungen über den Faschismus bis in die Gegenwart führt, ist jedoch bis heute nicht ausgemessen.

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