Vorzüge der Virtuosiät
Von Kai KöhlerZu den Vorteilen berühmter Musiker zählt Freiheit bei der Programmwahl. Sie können, zum Beispiel, die hierzulande ziemlich unbekannte Klaviersonate des US-Amerikaners Samuel Barber von 1950 spielen – und der Saal ist trotzdem voll. Die Pianistin Yuja Wang hat am 19. Juni in der Philharmonie Berlin von ihrem Privileg Gebrauch gemacht und die Qualitäten des Werks bewiesen: die formale Konzentration, die thematischen Verbindungen und nicht zuletzt die Virtuosität.
Letztere ist nicht nur im Finale, eine beinahe atemlose Fuge, gefordert, sondern ebenso sehr in den etwas ruhigeren Teilen, die streckenweise von einer Mehrzahl an gleichzeitigen, rhythmisch unterschiedlich akzentuierten Vorgängen gekennzeichnet sind. Dass Wang, als Spezialistin für hochvirtuose Partien berühmt, diese alle exakt ausführen würde, war gesetzt. Zu erleben war indessen, wie Könnerinnenschaft zur Grundlage von Gestaltung wurde, hier konkret: wie Wang den einzelnen Schichten je spezifische Klangfarben verlieh, sie dadurch voneinander absetzte und so den Reichtum des musikalischen Geschehens vermittelte.
Es war also ein Gewinn, das Werk nicht nur kennenzulernen, sondern es auf diese Weise kennenzulernen. Einen ähnlichen Verlauf, von relativ ruhig bewegtem Beginn bis zu einer sich überstürzenden Fuge, wies die Werkgruppe auf, mit der Wang ihr Konzert eröffnete. Dmitri Schostakowitsch hat zwei Klavierzyklen komponiert, in denen er alle Tonarten berücksichtigte: die 24 Präludien op. 34 von 1932/33 und ebenfalls 24 Präludien und Fugen op. 87 von 1950/51. Wang hat aus den beiden Zyklen acht Stücke ausgewählt, die sich durchaus einer Gesamtdramaturgie fügen. Auch lassen sich viele einzelne Schönheiten anführen, die die Interpretin vermittelte. Zu nennen sind etwa die abgründige Melancholie im Fis-Moll-Präludium aus op. 87 mit seinen Anklängen an jüdische Volksmusik, wenige Jahre nach der Schoah, oder das zurückhaltend Tänzerische im Des-Dur-Präludium ebenfalls aus op. 87, von Wang genau in der nötigen Balance zwischen Zögern und Bewegung gespielt. Problem blieb allerdings, dass zwischen der Entstehung der beiden Zyklen knapp zwanzig Jahre liegen, in denen Schostakowitsch seinen Kompositionsstil weiterentwickelt hat. Nahmen zum Beispiel die frühen Präludien noch recht unvermittelt Modelle der Unterhaltungsmusik auf, so sind solche Vorlagen in op. 87 viel weitgehender in der musikalischen Struktur aufgehoben. Der Bruch ist schwer zu überhören – und damit die Schwierigkeit der Montage aus zwei unterschiedlichen Werken.
Nach der Pause gab es dann Chopin, die vier Balladen für Klavier, die er zwischen 1831 und 1842 schrieb. Den möglichen Verdacht, damit werde ein Publikum angelockt, das vor der Musik des 20. Jahrhunderts zurückscheue, widerlegte Wang schnell. Harmonisch sind Chopins Stücke natürlich zugänglicher, doch prallen in ihnen die Gegensätze radikaler noch aufeinander als in den späteren Kompositionen. Wang zeigte die Balladen als Welten, in denen keinerlei Sicherheit besteht. Wohl gibt es taktweise sicheres Voranschreiten, aber es folgt schnell ein Stolpern. Phasen gesanglicher Erfüllung münden in Zusammenbrüche, nach Zusammenbrüchen hingegen geht es weiter, zuweilen sogar aufwärts; aber natürlich traut man dem nicht mehr. Auch hier war eine stupende pianistische Technik die Grundlage inhaltlicher Verdeutlichung, und Wangs Fertigkeit, gleichzeitig ganz unterschiedliche Klangfarben hervorzubringen, machte das Komplexe durchhörbar. Großer Jubel, und sieben oder acht Zugaben (irgendwann mit dem Zählen aufgehört).
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