Gipfelgrüße aus Moskau
Von Reinhard LauterbachEinen Tag vor dem Jubiläumsgipfel der NATO in Washington hat Russland einen der heftigsten Raketenangriffe auf Ziele in der Ukraine seit Wochen geflogen. Nach ukrainischen Angaben flogen etwa 40 Raketen und Marschflugkörper verschiedener Typen Ziele in Kiew, Kriwij Rig, Dnipro sowie dem frontnahen Kramatorsk an. Insgesamt wurden bis zum Montag nachmittag mindestens 29 Tote und mehrere Dutzend Verletzte gemeldet, die meisten offenbar beim Beschuss des »Nördlichen Erzanreicherungskombinats« in Kriwij Rig, der größten Eisenerzmine Europas. In Kiew wurden unter anderem zwei Umspannstationen des Energieversorgers DTEK, ein Kinderkrankenhaus und ein Apartmentblock getroffen. Die Zahl der Opfer war am Mittag noch vorläufig.
Unklar blieb, ob das Krankenhaus absichtlich gewähltes Ziel war oder als sogenannter Kollateralschaden beim Abschuss von anfliegenden Raketen getroffen wurde. Das russische Verteidigungsministerium sprach von Angriffen auf Ziele der militärischen Infrastruktur, russische Medien erwähnten »starke Explosionen« in der Nähe des Kiewer Innenstadtflughafens Schuljani. Das getroffene Krankenhaus liegt allerdings nach den Angaben auf seiner Webseite einige Kilometer vom Flughafen entfernt.
Ukrainische Medien vermeiden in der Regel solche Differenzierungen und sprechen nur von »Einschlägen«. Das letzte Mal, dass ein ukrainischer Politiker diesen Aspekt öffentlich angesprochen hat, war im Januar 2023, das kostete damals den Strategieberater des Präsidialamtes, Olexij Arestowitsch, das Amt. Die Erfahrung zeigt, dass solche nach einem Abschuss unkontrolliert herabfallenden Trümmer keine geringeren Schäden anrichten können als gezielte Treffer. Die ukrainische Berichterstattung stellt gern solche »Kollateralschäden« an zivilen Gebäuden als eigentliches Ziel dar. Vor einigen Wochen gingen zum Beispiel Bilder von zerstörten Wohnhäusern in einer Kleinstadt bei Saporischschja durchs Netz, erst im nachhinein stellte sich heraus, dass die Häuser nahe einer Bahnlinie standen, auf der Russland einen Munitionszug der ukrainischen Armee bombardiert hatte. Das macht den Verlust des Obdachs für die Bewohner nicht weniger schmerzlich, ändert aber die politische Einschätzung des Vorfalls.
Mutmaßliche Kriegsverbrechen der ukrainischen Seite hat am Wochenende die New York Times veröffentlicht. Unter Berufung auf einen deutschen Mediziner, der damals in einer Freiwilligeneinheit namens »Ausgewählte Kompanie« auf ukrainischer Seite tätig war, berichtet das US-Leitmedium, wie Soldaten dieser von einem pensionierten US-Offizier geführten Einheit im August 2023 bei Awdijiwka verwundete Russen, die sich ergeben und um Hilfe gerufen hätten, kurzerhand erschossen hätten. Weiter schreibt die Zeitung, der deutsche »Kronzeuge« habe erfolglos versucht, diese Praxis durch Meldung bei den militärischen Vorgesetzten zu beenden. Die im Telefon des Zeugen gespeicherten Chatverläufe von Angehörigen der Einheit hätten Hinweise darauf enthalten, dass Fälle wie der geschilderte in der »Ausgewählten Kompanie« nicht unüblich gewesen seien.
Als Reaktion auf die jüngsten schweren Raketenangriffe auf Ziele in der Ukraine aktivierte die NATO offenbar Flugzeuge ihrer Luftwaffen. So starteten nach Berichten von Flugverfolgungsseiten in Polen, Großbritannien und Italien Kampf-, Tank- und Überwachungsmaschinen. Ausgelöst wurde der Alarm offenbar durch den Umstand, dass die anfliegenden Raketen in westlicher Richtung unterwegs waren. Zu Zwischenfällen kam es offenbar nicht.
An der Front setzen russische Einheiten ihren langsamen Vormarsch in verschiedenen Abschnitten offenbar fort. Am Wochenende räumten ukrainische Webseiten den Verlust von zwei kleinen Dörfern bei Torezk westlich von Gorliwka sowie die Eroberung eines seit Wochen umkämpften und inzwischen weitestgehend zerstörten Teils der Stadt Tschassiw Jar ein, außerdem Geländegewinne Russlands östlich der Stadt Kupjansk im Bezirk Charkiw. Eine Brücke über den Fluss Oskil in derselben Gegend wurde offenbar bei einem Bombenangriff zerstört.
Unterdessen haben die neuen Regierungen der Niederlande und Großbritanniens der Ukraine weitere Waffenlieferungen versprochen. Der Verteidigungsminister der Labour-Regierung, John Healey, sagte bei einem Besuch in Odessa der Ukraine Artilleriegeschütze, 250.000 Schuss Munition, Minenräumfahrzeuge, kleine Militärboote, Raketen und weitere militärische Ausrüstung zu. Die Niederlande wollen zwei ausgemusterte Minenräumboote an die Ukraine abgeben. Unklar ist aber noch, ob die Türkei den Schiffen die Passage durch den Bosporus erlaubt.
Hintergrund: Paniklaune
Der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Carsten Breuer, hat im Grund zugegeben, dass die Ukraine den Krieg gegen Russland schon verloren hat. In einem Interview aus Anlass des am Dienstag beginnenden NATO-Gipfels sagte er der Süddeutschen Zeitung, Russland sei dabei, mehr Menschen und Material zu rekrutieren, als es »für seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine bräuchte«. Die Zielgröße für die Personalstärke der russischen Streitkräfte betrage 1,5 Millionen Mann – das seien »mehr Soldaten als in der ganzen EU«. Und auf der materiellen Seite sei Russland dazu übergegangen, beschädigte Panzer nicht mehr zu verschrotten, sondern sie nach Möglichkeit zu reparieren oder wenigstens zur Ersatzteilgewinnung auszuschlachten. Auf diese Weise bekomme die russische Armee in den nächsten Jahren jährlich zwischen 1.000 und 1.500 Panzer geliefert. Das sei doppelt soviel, wie die fünf größten Armeen der NATO gemeinsam geliefert bekämen. Das deute darauf hin, dass sich Russland gegen Ende des laufenden Jahrzehnts versucht sehen könnte, nach dem Sieg über die Ukraine direkt NATO-Staaten anzugreifen. Da am selben Tag der scheidende NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in einem dpa-Interview die westlichen Öffentlichkeiten darauf einzustimmen suchte, dass die gegenwärtige Konfrontation »sehr lange dauern« könne, ist der offensive Charakter dieser russischen Maßnahmen nicht mehr ganz so naheliegend.
Was der Generalinspekteur auch nicht dazu sagte: Wenn seine Darstellung stimmt, dass Russland derzeit beschädigte Panzer aus dem Bestand repariere bzw. ausschlachte, bedeutet das im Rückschluss auch, dass seine Armee weiterhin mit veralteter Technik ausgestattet sein wird. Das deckt sich mit westlichen Geheimdienstinformationen, dass die gern auf Paraden gezeigten russischen Superpanzer T-90 oder »Armata« in der Produktion mit Anlaufschwierigkeiten belastet sind. Im übrigen ist eine der zentralen Erkenntnisse aus dem bisherigen Verlauf des Ukraine-Krieges, dass die Bedeutung der Panzerwaffe angesichts der neuen Möglichkeiten, Panzer von Drohnen aus zu bekämpfen, stark zurückgegangen ist. Kaum vorstellbar, dass dem Fachmann Breuer dies nicht bekannt ist; wahrscheinlicher ist, dass er Panikstimmung verbreiten will, um die Öffentlichkeit an ein förmlich maßloses Rüstungsprogramm zu gewöhnen.
Denn darum ging es ihm im Kern: Allein die Bundeswehr brauche nicht nur das einmalige Sondervermögen von 100 Milliarden Euro, das bereits so gut wie vollständig verplant bzw. ausgegeben sei. Nötig sei jedes Jahr ein Etat in Höhe dieser Summe – doppelt so hoch wie der aktuelle Militäretat. (rl)
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Wer will noch nicht erkennen, begreifen, wer den Krieg in der Ukraine von Beginn an wollte, ersehnt, lange Jahre darauf hin provoziert hat? Wer will seit Wochen und Tagen nicht immer deutlicher erkennen, wer auf den großen Krieg bewusst herbeiprovoziert?
Sind sich nicht schon mehrfach die Szenarien der NATO und des Westens so auffallend ähnlich, wie sie schon mehrfach Kriege entfacht haben, emotionalisiert und mit üblichen Kriegslügen zur Auslösung von Kriegen getrieben haben? NATO feiert sich als Friedenskraft seit seiner Gründung 1949. Mit wievielen Kriegen hat sie ihren Frieden bis heute in die Welt getragen? Wer stellt diese Frage? Wie weit liegt der atomare Abgrund vor der Menschheit? Kluge Menschen, Wissenschaftler haben auch solches Szenarium nach 1945 bereits beschrieben, für möglich gehalten.
Eine Friedensbewegung, die es vermeidet der entscheidenden Frage nachzugehen: Wer wollte, wer will den Krieg, wer arbeitet seit 1990, 2014 genau auf den Krieg zu, wer hat es nie an deutlichen Absichtserklärungen fehlen lassen? Für wen der Februar 2022 wieder eine Stunde Null ohne Vorgeschichte ist, will keinen Frieden, ist hoffnungslos geschichtsvergessen.
»Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit« nach Lord Artur Ponsonby nach dem Ersten Weltkrieg verfasst, hat bis zur Stunde nichts an Gültigkeit verloren. Seine zehn Grundsätze stimmen Wort für Wort, bezogen auf den Krieg in der Ukraine. Feindbilder aufbauen, Gegner diffamieren, Kriegsstimmung erzeugen, Hass und Hetze, alles gehört bis heute zum Kriegsgeschäft. Kein Krieg ohne missbrauchte Gefühle ohne psychologische Mittel, Massenmanipulation, Emotionalisierung, heute wie seit eh und je. Was erklärt »russischer Angriffskrieg«, wenn das Vorausgegangene und die Möglichkeiten für Friedensschaffung unterschlagen werden?
Machiavelli wusste vor hunderten Jahren: »Nicht wer zuerst nach den Waffen greift, ist Anstifter des Unheils, sondern wer die Ursache dafür geschaffen hat.« Eine Erfahrung, die selbst Kinder und Jugendliche auf dem Schulhof lernen. Jeder im Lande könnte wissen, wie NATO, Westen, USA seit 1945 verbal, aggressiv, provozierend kein Hehl daraus gemacht haben, die Sowjetunion und heute Russland auch militärisch zu besiegen. Da der lebensbewahrende Imperativ: Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus ist verstummt, aus seinem Zusammenhang gerissen.
Notorisch obrigkeitsgläubige Deutsche, resistent gegenüber jeder Mahnung und Erfahrung der eignen Geschichte, stehen gleichgültig, dumm, gedankenlos, unwissend, naiv vor der Katastrophe.
R.Luxemburg 1915: »Auf seinen objektiven historischen Sinn reduziert ist der heutige Weltkrieg als Ganzes ein Konkurrenzkampf des Kapitalismus um die Weltherrschaft.« Worum geht es heute?
Liebknechts Wort vom Hauptfeind im eignen Lande gilt ebenso bis heute. Eine imperialistische Räuberbande hat unterschiedliches Interesse am Krieg. Russland, das russische Volk kennt seine Geschichte und seine Feinde nicht seit heute.
Russland nutzt Angriffe, um der ukrainischen Infrastruktur Schäden zuzufügen, die ein Vielfaches der Flugabwehranlagen kosten. Die Ukraine bräuchte mindestens sieben Patriot-Systeme als absolutes Minimum, um die wichtigsten Städte zu schützen. Große Teile des Landes wären auch damit nicht ausreichend geschützt. Doch diese Systeme sind derzeit aus mehreren Gründen nicht verfügbar: Einerseits haben die USA nicht genügend produziert, und die bestehenden Systeme sind vertraglich auf Jahre hinaus vergeben. Andererseits gibt niemand gern seine vorhandenen Systeme in den heutigen »kriegerischen Zeiten« ab, da dies ein Risiko für die eigene Sicherheit bedeutet. Die derzeitige russische Kriegswirtschaft produziert ein Vielfaches an militärischen Geräten und Munition im Vergleich zum gesamten Westen, was in diesem Abnutzungskrieg ein entscheidender Faktor ist.
Die Ukraine befindet sich in einer prekären Lage. Ohne ausreichende Luftabwehrsysteme ist es nahezu unmöglich, die russischen Raketenangriffe effektiv abzuwehren. Der Westen, insbesondere die NATO-Staaten, stehen vor einer schwierigen Entscheidung: Sollen sie ihre eigenen Sicherheitsinteressen zugunsten der Ukraine zurückstellen oder riskieren sie, dass Russland durch die Zerstörung der ukrainischen Infrastruktur einen strategischen Vorteil erlangt?