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Aus: Ausgabe vom 19.07.2024, Seite 6 / Ausland
EU-Grenzregime

Sündenbock Schmuggler

Gewalt gegen Asylsuchende laut UN-Bericht vor allem durch Kriminelle und staatliche Behörden. Schleuser jedoch im Fokus der EU
Von Karina Wasitschek
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Allein schafft man es nicht durch die Wüste: Nigrer nahe Agadez auf dem Weg nach Libyen (29.10.2019)

Das Migrations- und Asylpaket der EU sieht einen »Aktionsplan gegen die Schleusung von Migranten« vor; Schlagwörter wie »Schleusermafia«, »international organisierte Verbrecherbanden« und »menschenverachtende Geschäftspraktiken zwecks Profitmaximierung« geistern durch Medien und Politik. Es soll »hart durchgegriffen« werden. Fluchthelfer, abwertend als Schleuser, Schlepper oder Schmuggler bezeichnet, werden dabei häufig als alleinige Verantwortliche für hohe Todeszahlen und Gewalt dargestellt.

Nun entkräftet ein gemeinsamer Bericht des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und des Recherchenetzwerks »Mixed Migrations Center« (MMC) das Argument der skrupellosen Schmuggler als größten Gefahr für migrierende Menschen. Für den Anfang Juli veröffentlichten Bericht wurden zwischen Januar 2020 und März 2023 insgesamt 31.542 Asylsuchende nach ihren Erfahrungen auf den Landrouten von den Sektionen Ostafrika/Horn von Afrika sowie West- und Nordafrika gen Norden befragt. Das Ziel war die Kartierung der Risiken und Formen der Gewalt, der Migrierende ausgesetzt sind, wo diese Risiken am akutesten sind und welche Gruppen als Täter beschrieben werden.

Demnach verschlimmerte sich die Situation seit dem ersten Bericht im Jahr 2020: Die neuen Konflikte in der Sahelzone (fünf Millionen Vertriebene – eine Verdopplung seit 2020), Dürren und Überflutungen in Ost- und am Horn von Afrika sowie der Krieg im Sudan (8,8 Millionen Vertriebene) lassen die Zahl der Flüchtenden in Richtung Mittelmeer ansteigen, die Routen werden immer gefährlicher. Der Weg durch den Sudan Richtung Ägypten beispielsweise, vormals zwei bis drei Tage, kann nun drei Wochen dauern; die Preise steigen entsprechend schnell. Laut Europol nehmen 90 Prozent der Flüchtenden die Hilfe von Schmugglern in Anspruch.

Mit ein paar Ausnahmen gaben die Menschen auf allen drei Sektionen folgende Täter an: Am häufigsten gehe die Gefahr von kriminellen Banden, Strafverfolgungsbehörden und bewaffneten Gruppen aus. Interessant ist die unproportional hohe Zahl von Schmugglergewalt in der Nordafrikasektion – also der Sektion, in der die EU allein für Tunesien, Marokko und Ägypten 377 Millionen Euro vorsieht. Und zwar für »Grenzschutz, Such- und Rettungsmaßnahmen, die Bekämpfung des Menschenschmuggels und die Rückführung von Migranten«, wie Euronews berichtete. Für die Westafrikasektion geben nur 13 Prozent der Befragten Gewalt durch Schmuggler an – kein Zufall, denn in dieser Region herrscht laut des Berichts noch relative Bewegungsfreiheit.

Die Befragung bezog sich auf 20 Länder entlang der drei Sektionen – die Sahara und das Mittelmeer wurden hier als Länder gezählt. Die größte Lücke des Berichts sind Daten aus der Sahara, die Analyse wird dadurch verzerrt. Von Januar 2020 bis Mai 2024 liegt die Zahl der Toten oder Vermissten im Mittelmeer bei 7.115. IOM und MMC gehen davon aus, dass diese Zahl in der Sahara mindestens das Doppelte beträgt, offiziell starben dort in diesem Zeitraum 1.180 Personen.

Physische Gewalt – also auch Folter – ist laut den Befragten die Norm, das Risiko zu sterben allgegenwärtig. Raub, willkürliche Inhaftierung, Entführung, Erpressung, Zwangsarbeit, kollektive Zwangsausweisung folgen in der Liste der häufigsten Übergriffe und Risiken. 15 Prozent der Flüchtenden erfahren sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt. Dabei trügt die niedrige Zahl – nur ein Drittel der Befragten waren Frauen, denn die Angst vor Stigmatisierung ist groß. Laut UN Women werden geschätzte 90 Prozent der migrierenden Frauen vergewaltigt. Der tödlichste und gefährlichste Ort ist den Befragten zufolge Libyen, gefolgt von Äthiopien, Guinea, Burkina Faso und Mali.

In diesem Kontext ist die Empfehlung des Berichts – eine erhöhte Niederlassungsquote für Geflüchtete in Libyen – mehr als fahrlässig. So auch die empfohlenen »Evakuierungen« im Rahmen des »Emergency Transit Mechanisms« in den Niger – auf Platz sieben der gefährlichsten Länder – und nach Ruanda. Das geplante britische, nicht mit der Genfer Flüchtlingskonvention konforme »Ruanda-Modell« propagieren übrigens auch deutsche Politiker. Die Verurteilung von willkürlicher Verhaftung bei Kindern entlang der afrikanischen Landrouten wirkt janusköpfig, bedenkt man, dass die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) ebenfalls eine Inhaftierung für Kinder ab sechs Jahren vorsieht. Vor allem die Formulierung »Refugee producing countries«, damit sind zum Beispiel Nigeria, Kamerun und Sudan gemeint, ist bemerkenswert. Schließlich sind Fluchtursachen wie Krieg, Armut, Ausbeutung und Umweltzerstörung historisch und aktuell (neo-)kolonial agierenden Staaten wie Großbritannien, Deutschland und Frankreich und deren Konzernen anzulasten.

Obwohl der UNHCR-Bericht eine ernsthafte Besorgnis über die Situation von Flüchtenden anklingen lässt, geht er recht konform mit Aussagen von Politikern. »Nie zuvor«, sagte Ursula von der Leyen im November 2023, sei das Schleusergeschäft so profitabel und tödlich gewesen. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson sprach in diesem Zusammenhang von organisiertem Verbrechen. Auch Europol-Agenten sollen für die »Schleuserbekämpfung« auf EU- und drittstaatlichem Boden eingesetzt werden, ein Projekt, das sich die EU zusätzliche 50 Millionen Euro kosten lässt. »Ich denke, man kann mit Sicherheit sagen, dass die europäische Migrationspolitik genau das Gegenteil bewirkt hat«, so Bram Frouws, Direktor des MMC, gegenüber dem Portal EU Observer. Die Frage der Schmuggler erfordere einen differenzierteren Ansatz, da einige von ihnen den Menschen wirklich helfen würden, Sicherheit zu finden. »Ja, es gibt Orte, an denen sie die Haupttäter der Gewalt sind, aber auch Orte, an denen sie es nicht sind«, so Frouws.

Der Kampf gegen Schmuggel ist jedoch eine Chiffre für den Kampf gegen Migration. So sind viele der Empfehlungen und Aktionspläne des Berichts darauf ausgelegt, Menschen von der Reise abzuhalten, wie das »Telling the Real Story«-Programm unter Einbindung der »Communitys«, die Arbeit gegen Social-Media-Narrative und gegen »Idealisierungen« der »Schmuggler«. Die eigentlichen Verursacher bleiben in dem Bericht nicht existent.

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