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Aus: Ausgabe vom 09.09.2024, Seite 11 / Feuilleton
Theater

Der glücklose Engel

Unter den Trümmern: Das 35. Art-Carnuntum-Festival bestach mit einem Heiner-Müller-Schwerpunkt
Von Sabine Fuchs
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»Nieder mit dem Glück der Unterwerfung«: Benedetta Laurà als Medea

Das im deutschsprachigen Raum kaum bekannte »Centro Teatro Attivo« in Milano ist eigentlich eine Ausbildungsstätte für Theatermacher. Im Laufe der letzten Jahre hat sich aber im Umfeld der Schule eine Gruppe von Absolventen und jungen Schauspielern zusammengefunden, die Inszenierungen erarbeiten, mit denen sie durch Italien und die Welt touren. Heuer waren sie mit zwei Arbeiten beim niederösterreichischen Theaterfestival Art Carnuntum (30.8.–7.9.) zu Gast, die Regisseur Mattia Sebastian Giorgetti nach Texten von Heiner Müller inszeniert hat.

Giorgetti hat seine Ausbildung als Regisseur bei Theodoros Terzopoulos und Tadashi Suzuki absolviert, er ist stellvertretender Direktor der »Suzuki Company of Toga«, des großen Theaterzentrums, das Suzuki in Japan leitet. Den Einfluss der klassischen Avantgarde sieht man auch den beiden Arbeiten an, die er in Carnuntum präsentierte.

War am ersten Abend eine »Medea«-Fassung zu sehen, die in weiten Teilen auf Müllers »Verkommenes Ufer/Medea­material/Landschaft mit Argonauten« beruht (aber auch Teile von Euripides und Senecas »Medea«-Fassungen sowie eine Passage aus Müllers »Bildbeschreibung« enthält), so wurde am zweiten Abend »Hamletmaschine« dargeboten. Die Inszenierung verwies zugleich auf die dritte Inszenierung des diesjährigen Festivals, den klassischen »Hamlet« in einer Inszenierung der Londoner Gruppe »The Lords Chamberlain’s Men«.

Sowohl bei »Medea« als auch bei »Hamletmaschine« vermeidet Giorgetti jeden klassizistischen oder naturalistischen Zugang. Seine »Medea« beginnt zwar fast elegisch – die junge Schauspielerin Cinzia Tropiano schreitet als Medea, einen Trauergesang anstimmend und das Goldene Vlies in der Hand, den Abhang in das römische Amphitheater von Carnuntum herab. Aber das schöne Bild wird sofort dekonstruiert: Der Krieg um das Goldene Vlies war ein Wirtschaftskrieg, in dem es um die politische und militärische Dominanz der Griechen im Schwarzen Meer ging.

In Begleitung einer Prostituierten tritt der »Engel der Geschichte« auf, der auf Walter Benjamins Engel aus »Über den Begriff der Geschichte« verweist, der wiederum von Heiner Müller als »Glückloser Engel« verewigt wurde: Trotz seiner mächtig rauschenden Flügel wird er immer wieder von den Trümmern der Kriege und Verwüstungen der Vergangenheit begraben, und immer wieder ist er aufs neue dazu verdammt, die nächste Utopie als Vergangenheit untergehen zu sehen. Giorgetti zeigt die Grausamkeiten der vergangenen Kriege nicht, doch macht sie mit Schlachtenlärm, Maschinengewehrsalven und einer Hitler-Rede aus dem Jahr 1940 hörbar – ein eindrucksvoller dystopischer Moment.

Medea, der Königstochter und Zauberin, die im antiken Kolchis auch als Göttin verehrt wurde, bringt der Verrat an ihrem Volk kein Glück. Sie ermordet ihren Bruder, um Jason und den Griechen das Vlies ausliefern und mit ihnen fliehen zu können, doch Jason verlässt und verstößt sie, ihr bleibt nur die Rache. In der letzten Szene sitzt sie, jetzt als ältere Frau dargestellt von der großartigen Benedetta Laurà, einsam am Rand der Bühne. Mit der Tötung der Söhne, die sie Jason, dem Griechen, dem Feind, geboren hat, schwört sie der Mutterschaft ab. Das verbindet sie mit der Ophelia aus der »Hamletmaschine«, die ebenfalls die Welt, die sie geboren hat, zwischen ihre Schenkel zurücknehmen will und deren Satz »Nieder mit dem Glück der Unterwerfung« über beiden Stücken stehen könnte.

Trotzdem wird in beiden Inszenierungen kein platter Me-Too-Feminismus gepflegt, Giorgettis Zugang bleibt sarkastisch. Tanzszenen im Stile einer Nummernrevue der 1940er Jahre unterbrechen die dramatische Handlung und wirken wie ein Kommentar zu unserer auch nicht gerade pazifistischen Gegenwart. Hamlet tritt in mehrfacher Personifikation auf, gespalten in drei Darsteller: als Philosoph, der mit den Meereswogen nur noch »Blabla« redet, als Machtmensch und als Söhnchen der High Society, der lieber eine Frau wäre und Strapse und Stöckelschuhe trägt, darum aber nicht weniger bedrohlich ist.

Mit dem Heiner-Müller-Schwerpunkt des Centro Teatro Attivo haben das Festival Art Carnuntum und seine Intendantin Constantina Bordin erneut Inszenierungen mit universellem und humanistischem Anspruch präsentiert. Im nächsten Jahr soll das Festival um zusätzliche Spielstätten im Schloss Petronell erweitert werden, wo Inszenierungen, die sich nicht für die Freilichtbühne eignen, gezeigt werden. Auch Symposien und Diskussionen zur Theorie und Geschichte des Theaters sollen hier stattfinden. Man darf gespannt bleiben.

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