Diese Sehnsucht angesichts der Züge
Von Gisela SonnenburgDie erste Session von »Cloud and Stone« (»Wolke und Stein«) muss magisch gewesen sein. Im Sommer 2022 kam dem Saxophonisten Alexander Beierbach die Idee, sich musikalisch mit einem Vibraphon und einem Bass zu vermählen. Polyamorie oder die gute alte Mehrehe à la Jazz: Der Sound, der so entsteht, ist zugleich schwebend und geerdet. Man kommt damit schnell in eine groovige Stimmung: ganz entspannt, aber angeregt. Rhythmisch gehalten wird man durch die Bassklänge von Maike Hilbig, während das Vibraphon von Taiko Saito das Wolkige bewirkt. Dazwischen hat das Tenorsaxophon von »Ali« Beierbach alle Möglichkeiten. Bei Sommerhitze unter einem Dach in Berlin-Kreuzberg kam es zur Initialzündung. Was zunächst nur Experiment war, wurde bald eine Band, eine sich immer wieder findende und erfindende Formation. Sie ist am kommenden Dienstag in der Reihe »jW geht Jazz« in der Maigalerie der jungen Welt in Berlin zu Gast. Hannes Zerbe, die Jazzkoryphäe, hat die Reihe begründet und lädt an jedem ersten Dienstag im Monat zu neuen jazzigen Abenteuern ein.
Für Alexander Beierbach, der in Mainz studierte und seit 2002 in Berlin lebt, ist der Jazz eine Möglichkeit, Jugendträume zu verarbeiten. Als Teenager stand er mit der Clique in Stuttgart so manches Mal sehnsüchtig vor dem Nachtzug nach Paris – aber er musste selbst die S-Bahn in einen Vorort nehmen. Züge blieben sein Thema: Heutzutage kommen ihm die besten Ideen für Kompositionen beim Zugfahren. »Train Songs« (»Bahnlieder«) heißen die Ergebnisse, sie bilden das Gros des Programms in der Maigalerie.
Verträumt und melancholisch, aber auch verspielt und irgendwie widerborstig muten diese Stücke an. Es sind Bahnreisen mit Musik. Man meint hügelige Landschaften, die am Fenster vorbeijagen, zu sehen, und im Kontrast dazu rumpelnde Gleise zu hören. Manche der Stücke wurden ursprünglich für eine größere Besetzung geschrieben. Für Beierbach ist es spannend, sie fürs Trio neu zu arrangieren. Zudem changieren sie im Ausdruck je nach Kontext. »Das Tempo und der Modus ändern sich«, sagt der Musiker: »mit der Reihenfolge der Stücke.«
Es wird aber auch Kompositionen von Taiko Saito zu hören geben. Sie absolvierte, in Sapparo geboren, in Japan ein Klassikstudium und kam erst in Berlin zum Vibraphon. Im April dieses Jahres erhielt sie den Deutschen Jazzpreis, sie gilt aber schon seit langem als ziemlich einzigartige Musikerin. Ganz zart muten ihre Klangkünste an, doch aus den vielen feinen Schwingungen ergibt sich oft ein voluminöses Großes. Vom Ruch des Schwalligen, des Seichten hat Taiko Saito das Vibraphon befreit und es zum ernstzunehmenden, auch präzisen Klangkörperderivat gemacht. Den Tonumfang von drei Oktaven, den das Instrument hat, nutzt die Interpretin und Komponistin ganz bewusst. Seit 1930 wird im Jazz übrigens das Vibraphon gespielt, und in den 60er Jahren war es besonders beliebt. Aber seine eigentliche Blütezeit scheint es erst jetzt in Berlin mit Taiko Saito zu erleben.
Die Dritte im Jazzbund bei »Cloud and Stone« ist die in Nürnberg geborene Bassistin Maike Hilbig. Sie war schon mit Silke Eberhard als Duo »Matsch und Schnee« in der Maigalerie zu Gast. Jetzt wird Hilbig einmal mehr souverän in die dunklen Tonbereiche entführen. Und bei den Improvisationen darf man gespannt darauf sein, welche Klangfarbe der drei Instrumente die am meisten prägende Kraft haben wird.
»Cloud and Stone« in der Reihe »jW geht Jazz«, 1. Oktober 2024, jW-Maigalerie, Torstr. 6, 10119 Berlin, 19.30 Uhr, Eintritt: 10 Euro (ermäßigt 5 Euro). Um Anmeldung wird gebeten: 0 30 / 53 63 55-54 oder maigalerie@jungewelt.de
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