Komponist als Ärgernis
Von Florian NeunerVor einem halben Jahrhundert, als in der Musikwelt der 150. Geburtstag Anton Bruckners begangen wurde, schrieb der Musikwissenschaftler und Dirigent Peter Gülke für die DDR-Zeitschrift Musik und Gesellschaft einen Text, den er mit »Der schwierige Jubilar« überschrieb.¹ Ein schwieriger Fall für das Musikleben der DDR war der aus Oberösterreich stammende Komponist zweifellos. Einerseits war Bruckner eine der wichtigsten Galionsfiguren des nationalsozialistischen Musiklebens, und es hätte eigentlich wenig Anlass gegeben, sich in einem Land, das mit seiner Kulturpolitik antifaschistische Zeichen setzen wollte, ausgerechnet dem Gesamtwerk des Komponisten zu widmen. Andererseits gab es aber gerade auf dem Staatsgebiet der DDR Orchester mit großer Bruckner-Tradition – allen voran das Leipziger Gewandhausorchester – und Dirigenten, die sich dieser Tradition auch verpflichtet fühlten. Zu Recht stellte Gülke 1974 fest: »Anton Bruckner wird bei uns gern und auch ausgezeichnet musiziert.«
Gülke, selbst ein herausragender, auf Schallplatte leider nicht dokumentierter Bruckner-Interpret, hob in seinem Essay zu Bruckners 150. Geburtstag aber nicht auf den Missbrauch Bruckners in der NS-Zeit ab, sondern sprach von einem vor allem »musikwissenschaftlichen Versäumnis« und erinnerte an die problematische Rezeption des Symphonikers. Kaum ein Komponist des 19. Jahrhunderts war so umstritten wie Bruckner. Scharfe Kritiker – allen voran Eduard Hanslick, der sich publizistisch für Johannes Brahms einsetzte und in der biographischen Literatur zum großen Gegenspieler Bruckners stilisiert wurde – standen glühenden Anhängern gegenüber, die im damaligen Wien Exponenten der »neudeutschen« Wagner-Fraktion waren. Auch die Rezipienten im Jahr 1974 waren Gülke zufolge noch »Erben einer Situation, in der Feinde und Freunde Bruckner gleich übel mitgespielt haben, Feinde mit bösen Tiefschlägen wie Hanslicks Formulierungen vom ›traumverwirrten Katzenjammerstil‹, Freunde mit gutgemeinten Bearbeitungen, irritierenden Revisionsvorschlägen und später mit einer Masse fast unlesbar gewordener panegyrischer Literatur«.
Beschränkt und einseitig?
In der DDR sind zwei Monographien über Anton Bruckner erschienen: 1958 Max Dehnerts »Versuch einer Deutung« und 1987 eine heute noch sehr lesenswerte Monographie von Mathias Hansen, die gewissermaßen die Spannweite und den zeitlichen Bogen der Bruckner-Rezeption in der DDR deutlich macht. 1947 hatte Karl Laux (1896–1978) in der sowjetischen Besatzungszone ein überarbeitetes Bruckner-Buch herausgebracht, das zuerst 1940 erschienen war und ein mit der NS-Ideologie konformes Bild des Komponisten gezeichnet hatte. Den großen Rahmen einer musikwissenschaftlichen Bruckner-Rezeption, deren Ausbleiben Gülke 1974 beklagte, hatte Georg Knepler (1906–2003), der Doyen der Musikwissenschaft in der DDR, mit seiner 1961 publizierten »Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts« gesetzt, der über Bruckner schrieb: »Für ihn ist es nicht bloß charakteristisch, dass er gottesgläubig war, sondern auch, dass er die politischen, nationalen und kulturellen Vorurteile des reaktionärsten Flügels der herrschenden Klasse und der Kirche teilte.« In seinen Symphonien spiegle sich ein »beschränktes und einseitiges Weltbild«.
Bruckner-Interpreten haben – je nach zeithistorischem Kontext und Interessenlage – die tiefe Religiosität des Komponisten und Organisten betont, der bis ins hohe Alter viel Zeit in den Klöstern seiner oberösterreichischen Heimat verbrachte und mit Klerikern eng befreundet war, und seine Symphonien als »Messen ohne Worte« gedeutet. Oder sie haben die Zäsur betont, die es zweifellos bedeutete, als Bruckner, der bis dahin als Komponist kirchenmusikalischer Gelegenheitswerke im lokalen, oberösterreichischen Kontext hervorgetreten war, sich um sein 40. Lebensjahr herum ganz der weltlichen Musik und der Symphonik zuwandte, die ihn – von wenigen Ausnahmen abgesehen – bis an sein Lebensende ausschließlich beschäftigen sollte. Auch der Komponist und Schriftsteller Max Dehnert (1893–1972), NSDAP-Mitglied und im Kulturleben des »Dritten Reichs« aktiv, seit 1953 Professor für Theorie und Schulmusik an der Musikhochschule Leipzig, war bemüht, Bruckners Religiosität allgemein humanistisch zu deuten: »Das immer wiederkehrende Wunder der Verwandlung geschieht: Von den gewaltigen Kräften eines unzerstörbaren Glaubens gespeist, spricht einer von sich, von seinen Leiden, aber auch von seinen Freuden, von seiner Zerknirschung und von seiner Erhebung, von seinem Kampf und von seinem Sieg. Noch hören wir zu und sind von dem Beispiel erhoben, aber mit einem Male spüren wir, wie das ›Ich‹-Erlebnis sich zum ›Wir‹ steigert: Wir sind einbezogen in das überpersönliche Bekenntnis.«
Dehnert, der in seinem Bruckner-Buch auch die politische und geistige Situation im »Vormärz« des Habsburgerreichs skizziert, den »Gärungs- und Zündstoff dieser Zeit«, weist darauf hin, dass Bruckner sich einige Tage der Nationalgarde anschloss, als die Revolution 1848 Linz erreichte. Anders als sein Idol Richard Wagner, der wegen seiner Teilnahme an den Dresdner Maiaufständen steckbrieflich gesucht wurde, wird man in dem damals 24jährigen Bruckner keinen Revolutionär sehen, dafür fehlt es auch an entsprechenden Aussagen und Zeugnissen. Dehnert zitiert Oskar Loerke, der diese Episode so deutete: »Der selige Schwung erfasste auch Bruckner«, und schreibt: »Seine politische Haltung, wenn man überhaupt bei ihm davon sprechen darf, hat etwas Archaisches und Utopisches zugleich.« Weiter charakterisiert er seine Musik so: »Sie wächst, ohne ihre Wurzeln zu verleugnen, in das Allgemeingültige hinein. Dieses Wachsen der Musik von einem Zentrum her, dieser Anfang einer magischen Spirale, die kein Ende hat, dieses unablässige Weiterbauen auf einer Basis, die nicht zu erschüttern ist, dies alles spürt gerade der Hörer von heute, wenn er Bruckner hört. Er spürt es um so mehr, weil er in einer Zeit lebt, die um eine neue Basis ringt.«
Im vierten Satz von Bruckners dritter Symphonie gibt es eine bemerkenswerte Stelle, bei der man fast geneigt sein könnte, an Charles Ives, den großen Außenseiter der US-amerikanischen Musik, zu denken, der in seiner Musik gern die Simultaneität des Gegensätzlichen inszenierte, indem er etwa mehrere Blaskapellen aneinander vorbeiziehen lässt. Bei Bruckner erklingen gleichzeitig ein Choral und eine Tanzmelodie im Polka-Rhythmus. Den Hintergrund, so will es die Anekdote, soll die Erinnerung an eine Situation bilden, als Bruckner aus einem Haus Tanzmusik hörte, während im Nebengebäude der verstorbene Dombaumeister aufgebahrt lag. Gülke interpretiert die Stelle so: »Hier zeigt sich die menschliche Seite von Bruckners Frömmigkeit: Sie bringt zusammen, was anderwärts längst auseinandergefallen war, sie rettet etwas von der humanen Totalität, welche einstmals Sarastro und Papageno als Vertreter der gleichen Welt auf die Bühne stellte. Über die Katholizität von Bruckners Frömmigkeit ist ihr Humanum allzusehr übersehen worden, die Kraft, die Musik der Cherubim und des Plebs hineinszusetzen und dem Himmel, den sie ausmalt, sehr realistische Farben zu geben.«
Widersprüchliche Rezeption
Dehnert, von Gülke übrigens geschätzt, schreibt in seinem Bruckner-Buch aus dem Jahr 1958 von der Überwältigung »von dem kraft- und sinnvollen Gefüge des Ganzen« und betont, dass der österreichische Symphoniker – bei aller Innovation – doch immer fest in der Tradition verankert gewesen sei: »Bruckner bricht nie in die herrliche Gefahrenzone der letzten Freiheit aus, in der an alten, geheiligten Gesetzen gerüttelt wird, nicht um sie aus billigem Revolutionismus heraus zu verletzen, sondern um das vorausgeahnte Neue in eine neue Gesetzlichkeit zu zwingen. Er bleibt den überkommenen Gesetzen treu, nicht einmal, sondern neunmal.«
Das ist, auf die neun Symphonien anspielend, wohl auch adressiert an eine musikalische Öffentlichkeit, in der damals noch die Doktrin vom sozialistischen Realismus galt und die Neue Musik als formalistisch und bürgerlich abgelehnt wurde. Bruckners Zeitgenossen hatten ihn allerdings durchaus als musikalischen Revolutionär begriffen. Max Kalbeck, der in seinen Kritiken noch schrillere polemische Töne anschlug als Eduard Hanslick, verstieg sich gar zu der Aussage: »Kein Cäsar würde den Komponisten fürchten, und doch komponiert er nichts als Hochverrat, Empörung und Tyrannenmord. Ja, Bruckner ist bei weitem der Gefährlichste unter den musikalischen Neuerern des Tages; seine Gedanken liegen außer aller Berechnung, und das Unvermittelte in ihnen besitzt eine verführerische magische Kraft, welche größeres Unheil anstiftet als die raffinierten und mühsam ausgeklügelten Sophistereien der anderen.«
Aus heutiger Sicht ist es schwer nachvollziehbar, dass andere Zeitgenossen in dem vermeintlichen Anarchisten den Vollender der symphonischen Tradition und würdigen Beethoven-Nachfolger sahen. Der Musikwissenschaftler Mathias Hansen stellt in seinem Bruckner-Buch fest: »Hier liegt der einmalige Fall vor, dass ein Künstler als rücksichtslos-blinder Zerstörer geheiligter Traditionen geschmäht und andererseits zum verklärenden Vollender eben dieser Traditionen erhoben wird.«
Schon die zeitgenössische Bruckner-Rezeption, die maßgeblich von den Wiener Wagnerianern geprägt wurde, hatte eine deutsch-nationale Schlagseite. Bereits Bruckners Schüler und Biograph August Göllerich malte das Bild vom urwüchsigen, deutschen, echten und unschuldig-naiven Komponisten nicht zuletzt als Gegenentwurf zu einem urbanen, intellektuell-überzüchteten Künstlertypus, der mit antisemitischen Klischees konnotiert war. Anders als im Fall Richard Wagners gibt es keine Zeugnisse über eine antisemitische Haltung Bruckners. Es kursieren bloß Anekdoten, denen zufolge der katholische Komponist den »Herren Israeliten« verständnislos-mitleidig gegenüberstand, weil die noch immer auf den Messias warteten. Freilich finden sich in seinem weltlichen Chorwerk mit dem »Germanenzug« für Männerchor und Blechbläserensemble von 1863/64 und der Kantate für Männerchor und Orchester »Helgoland« (1893) zwei exponierte deutsch-patriotische Stücke, beide nach Texten von August Silberstein.
Der zu Bruckners Lebzeiten populäre »Germanenzug« ist heute so gut wie vergessen, der Text befremdlich: »›(…) / Teutonias Söhne, mit freudigem Mut / Sie geben so gerne ihr Leben und Blut / Die Freiheit, die Heimat ja ewig bestehn / Die flüchtigen Güter, sie mögen vergehn!‹ / So riefen die Krieger, so zogen sie fort / Gesegnet ihr Tun und bewahret ihr Wort!« Auch um das musikalisch durchaus interessante »Helgoland«, komponiert, um die Übergabe der Insel in der Nordsee vom Vereinigten Königreich an das Deutsche Reich zu feiern, machen selbst ausgewiesene Brucknerianer – Daniel Barenboim ist eine Ausnahme – einen großen Bogen.
Schwieriges Erbe
Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass Bruckner in der nationalsozialistischen Kulturpolitik eine herausragende Rolle spielte. Mathias Hansen schreibt: »Kein anderer Musiker, nicht einmal Wagner oder Richard Strauss, ja kein anderer Künstler der Vergangenheit überhaupt, ist so vorbehaltlos und vollständig von der nazistischen Ideologie okkupiert worden wie Bruckner.« Die Enthüllung der Bruckner-Büste in der Walhalla in Donaustauf bei Regensburg am 6. Juni 1937 war ein Staatsakt, an dem Adolf Hitler teilnahm und Joseph Goebbels eine programmatische Rede hielt, in der er Bruckners Symphonien als »nationales Vermächtnis« bezeichnete und sagte: »Diese für einen so treuen musikalischen Diener der Kirche fast unverständliche Wendung zur absoluten Symphonik, die ihrer Natur nach keinerlei liturgische Zweckbedingtheit kennt, ist der Schicksalspunkt in Bruckners weiterer künstlerischer Entwicklung geworden. Hier löst sich sein schöpferischer Genius von der Bindung an die Kirche, nun erwacht die frühlingshafte Gewalt der großen Schöpfung in ihm. Er ist von einem sieghaften Rausch des Gestaltens erfüllt, ein unbändiges Freiheitsgefühl durchbraust seine Seele.«
Hitlers Bruckner-Verehrung war zweifellos eine große Hypothek für die Rezeption nach 1945. Während in Österreich und der BRD, von einigen exponierten »Entnazifizierungs«-Fällen abgesehen, eine kaum hinterfragte Kontinuität des Musiklebens zwischen dem NS-Staat und seinen Nachfolgestaaten herrschte, zu der auch die Bruckner-Tradition zählte, stand in der sowjetisch besetzten Zone, später der DDR, ein Neubeginn auf dem Programm. Dass auch der Arbeiter- und Bauernstaat mit Kräften aus dem »Dritten Reich« arbeiten musste, zeigen die Beispiele Laux und Dehnert. Bereits 1949 begann Hermann Abendroth mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig seine Bruckner-Aufnahmen; drei Symphonien – die vierte, die fünfte und die neunte – wurden 2022 auf CD wiederveröffentlicht (drei Discs; Berlin Classics/Edel). Abendroths Bruckner klingt heute noch frisch, energiegeladen, in den Temporelationen mitunter exzentrisch. Der 1956 verstorbene Abendroth, nach dem Krieg in Weimar ansässig, ist heute fast vergessen und saß an seinem Lebensabend zwischen den Stühlen. An seiner Wirkungsstätte Köln hatten ihn die Nazis bekämpft; später wurde beargwöhnt, dass er Gewandhauskapellmeister wurde, nachdem Bruno Walter vertrieben worden war. Gülke weist in einer Würdigung darauf hin, dass Abendroth »als erster in Deutschland verbliebener Musiker mit tosendem Erfolg in Moskau, Leningrad und den osteuropäischen Hauptstädten wieder dirigiert« hatte. Niemand geringerer als Konrad Adenauer verhinderte, dass er in der BRD aktiv werden konnte.
Herbert Blomstedt mit der Staatskapelle Dresden, Otmar Suitner mit der Staatskapelle Berlin, Heinz Rögner mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin – in der DDR sind eine ganz Reihe von Bruckner-Aufnahmen entstanden, die heute als Referenzaufnahmen gelten, und Kurt Masur hat mit dem Gewandhausorchester einen Zyklus aller Symphonien vorgelegt. Masurs Gesamteinspielung der Symphonien ist solide, steht aber bis heute, was sein Renommee betrifft, im Schatten der Einspielungen von Bernard Haitink, Eugen Jochum oder Günter Wand. Ein besonderes Prestigeprojekt des VEB Deutsche Schallplatten Berlin war ein Bruckner-Zyklus, der zwischen 1975 und 1980 in Kooperation mit der EMI mit der Staatskapelle Dresden unter Eugen Jochum aufgenommen wurde. Jochum war in der BRD der angesehenste Bruckner-Interpret seiner Zeit und hatte bereits einen Bruckner-Zyklus vorgelegt, bei dem die Berliner Philharmoniker und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks sich die Aufgabe teilten. Unter Liebhabern wird diskutiert, welche Symphonie in welchem Zyklus vorzuziehen sei.
Bruckner-Stadt Leipzig
Die Bruckner-Stadt Leipzig erwarb ihren Ruf als Ort der Uraufführung der siebten Symphonie am 30. Dezember 1884, die als Durchbruch des Symphonikers Bruckner gilt, wenn auch die Münchner Erstaufführung unter Hermann Levi rezeptionsgeschichtlich von noch größerer Bedeutung war. In Leipzig wirkte damals seit einigen Jahren Arthur Nikisch als Erster Kapellmeister des Stadttheaters. Der hatte als Geiger in den Reihen der Wiener Philharmoniker 1873 an der Aufführung von Bruckners zweiter Symphonie unter der Leitung des Komponisten mitgewirkt und war seitdem ein begeisterter Anhänger. In Leipzig brachte Nikisch, seit 1895 Gewandhauskapellmeister, in der Saison 1919/20 den weltweit ersten Bruckner-Zyklus – »ein Ziel, dem im Laufe der Jahre in zweckbewusster Weise vorgearbeitet worden ist, und dem sich das Gewandhaus um so mehr gewachsen fühlt, als es einen für die Bruckner-Symphonien vorzugsweise berufenen Leiter besitzt«, hieß es damals in der Ankündigung.
Als der Gewandhauskapellmeister Bruno Walter am 16. März 1933 die Erstaufführung der vom Komponisten Bruckner eigentlich »annullierten« und daher »nullten« Symphonie in d-Moll (im Werkverzeichnis Anton Bruckner: WAB 100) dirigieren wollte, erlebte er folgendes: »Als ich mich gegen elf Uhr zur öffentlichen Generalprobe begab, strömten mir schon zahlreiche aufgeregte Gruppen eines zurückgewiesenen Publikums entgegen, und ich fand bei meiner Ankunft ein Plakat an dem Eingang, das kurz mitteilte, die Veranstaltung werde nicht stattfinden. Die Polizeidirektion hatte im Auftrag des sächsischen Innenministeriums am Donnerstag morgen Generalprobe und Konzert verboten.« Unter Walters Nachfolger Abendroth stand die Leipziger Bruckner-Pflege weiterhin in großer Blüte. Zum »Reichs-Bruckner-Fest« 1940 hieß es: »Bruckners Werk spiegelt den gewaltigen Geisteskampf des Deutschtums in der Welt; die Worte ›Und wenn die Welt voll Teufel wär‹ könnten als Leitspruch über dem Reichs-Bruckner-Fest stehen. Also drum, bahnbrechend auf, dem Endsieg des Meisters entgegen!«
Über alle politischen Zäsuren hinweg blieb Bruckner in Leipzig ein bestimmender Komponist – und davon, wie großartig das Gewandhausorchester auch heute noch zu musizieren vermag, konnte der Autor sich jüngst wieder vergewissern, als der frühere Gewandhauskapellmeister und Doyen der gegenwärtigen Bruckner-Interpreten, Herbert Blomstedt, die achte Symphonie dirigierte. Als der tschechische Dirigent Václav Neumann, der sich bislang noch nicht mit Bruckner beschäftigt hatte, 1964 ans Gewandhaus berufen wurde, war für ihn klar, dass diese Aufgabe nun vor ihm stand. Seine furiose Einspielung der ersten Symphonie zählt bis heute zu den besten und lässt es bedauernswert erscheinen, dass Neumann 1968 schon Leipzig verließ und sich in Prag wieder ganz anderem Repertoire widmete und unter anderem einen großartigen Mahler-Zyklus vorlegte.
Im Rahmen der Gewandhausfesttage 1987 fand in Leipzig vom 9. bis 11. Oktober das V. Internationale Gewandhaussymposium statt, das Bruckner gewidmet war, und zu dem sich alles einfand, was in der Bruckner-Forschung Rang und Namen hatte: Constantin Floros aus Hamburg, Cornelis van Zwol aus den Niederlanden, aus Wien unter anderen Manfred Wagner und Theophil Antonicek.² Am Schluss des Symposiums wandte sich Gastgeber Kurt Masur an seine Gäste und ließ mit der Bemerkung aufhorchen, dem Komponisten Bruckner wäre es in der DDR besser gegangen als in Wien: »Wir haben bei uns ein Auftragswesen für Komponisten, welches so entwickelt ist, dass wir heute sicherlich Bruckner in Leipzig ansässig gemacht und alle seine Sinfonien uraufgeführt hätten. Auch hätte Bruckner dann um keinen Doktortitel kämpfen müssen, und mit dem hohen Honorar für die Kompositionen wäre ihm gleichzeitig die Materialherstellung und die Uraufführung garantiert gewesen.«
Kollektivkompositionen
Zweifel daran sind erlaubt – wenn man an einen unangepassten Komponisten wie den 1932 geborenen Christfried Schmidt denkt, einen bekennenden Brucknerianer, der mit dem Österreicher einiges verbindet: die kirchenmusikalische Ausbildung (in Leipzig), aber auch ein lange Zeit echoloses Wirken in der Provinz. In den 1960er und 1970er schrieb er in Quedlinburg, im Brotberuf Musiklehrer und Chorleiter, unbeirrt an großformatigen Chor- und Orchesterwerken, für deren Aufführung es keinerlei Perspektive gab. Vieles harrt bis heute der Uraufführung, einige Aufführungen konnte Schmidt – mit teils jahrzehntelanger Verzögerung – zum Glück erleben. »Für mich ist der Bruckner der größte Symphoniker«, bekennt Schmidt und beschreibt sich als »Polyphonieenthusiast«: »Durch das langjährige Befassen mit polyphoner Musik (ich erwähne nur Bach, Bruckner, Reger) hatte ich zusehends Mühe mit Musik, die den kontrapunktischen Geist vermissen ließ (ich denke etwa an Berlioz und Liszt).«³
Peter Gülke hat in seinem Aufsatz über den »schwierigen Jubilar« einen interessanten Gedanken formuliert, der mit Anton Bruckner sogar geläufige Konzepte von Autorschaft in Frage stellt und in die Zukunft weist: »Was den Instrumenten, Intervallen, musikalischen Charakteren usw. historisch zugewachsen ist, sammelt Bruckner, so wie er es erlebt, in seiner Sinfonie als einer Art ›Kollektivkomposition‹, in der er die Objekte zum Sprechen bringt und sich einer einmal in Gang gesetzten Bewegung nicht anders überlässt als Eichendorff dem Rauschen der lyrischen Sprache.«
Anmerkungen
1 Peter Gülke: Der schwierige Jubilar. Zu Anton Bruckners 150. Geburtstag, in: Musik und Gesellschaft 24, 1974, S. 548
2 Steffen Lieberwirth (Hg.): Anton Bruckner. Leben, Werk, Interpretation, Rezeption. Kongressbericht zum V. Internationalen Gewandhaussymposium anlässlich der Gewandhausfesttage 1987. Dokumente zur Gewandhausgeschichte, Band sieben, Leipzig 1988
3 Christfried Schmidt: Verflechten, verzahnen, kombinieren, in: Positionen. Beiträge zur neuen Musik 3 (»Fragmente über neue Polyphonie«), 1989, S. 10–11
Florian Neuner schrieb an dieser Stelle zuletzt am 29. Januar 2024 über den Komponisten Luigi Nono.
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Leserbrief von Karl Kuntze aus Erfurt (26. Oktober 2024 um 11:38 Uhr)Tja, der Anton Bruckner, dumpfkatholisch mit seinem Kompositionsstil von unerträglicher Kitschigkeit. Es gab etliche solcher Kompositeure im 19. Jahrhundert, als die bürgerliche Klasse sich mit »Schönklang« umgab, einer inneren Todessehnsucht von Isoldes Liebestod, einer Morbidität, wohl ahnend, dass ihre Zeit ablaufen wird. Bruckner hatte das Pech, in den Kulturkampf zwischen Wagner-Exegeten und Brahms-Anhängern zu geraten. Dabei ist der Unterschied zwischen beiden Symphonikern so gravierend wie zwischen Otto Dix und dem Nazimaler Adolf Wissel. Brahms fast schon elitär zu nennende polyphone Stimmführung seiner Themen in den Sinfonien stehen die groben Schnitzer der Wohlfühlkompositionen Bruckners gegenüber. Diese banale Chromatik gepaart mit »Schusterflecken«, wobei das Thema um einen Ganz- oder Halbton verschoben wird um, noch einmal von vorn durchgenudelt zu werden – das ist die romantische Ausgabe des Kirchenpopsongs: »Dankää, füa diesen guten Morgään …«, wo nach jeder Stufe der Cantus firmus um einen Ganzton verschoben wird. Der arme Kerl wurde von den Neudeutschen zum sinfonischen Gegenpapst aufgebaut. Hätte es diesen Kulturkampf nicht gegeben, so wäre er heute nur für spezielle Liebhaber ein Begriff und vergessen wie dieser fürchterliche preußische Stahlgewitterorganist Karl Piutti, dessen Werke nur in Reitstiefeln mit Pickelhaube und vollem Werk einer Verfallsorgel zu spielen sind. Typisch für den unterirdischen Geschmack eines Kaiser Willi Nr. 2 und der bürgerlichen Klasse, gleichbedeutend mit dem Geschmack der toten Pferde eines Kavallerieregimentes. Das war auch mit ein Grund, warum Bruckner nicht mehr für die DDR-Kultur bedeutend war. Das Publikum liebte ihn zwar, doch aus künstlerischer Sicht war er die Eugenie Marlitt der Musik. Bei einer Aufführung sang ich mit Begeisterung: »Locus iste a deo c(f)actus est …« Für die lateinunkundigen DDR-Mitbürger übersetzte ich: »Dort auf dem Locus, neben dem Kaktus steht das Deo«. Bruckner entkleidet im Bad.
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