Die Welt täglich ändern
Von Gisela SonnenburgEs begann mit 25 DM. Der tatkräftige Kay Kuntze, in eine Westberliner Schuhverkäuferdynastie hineingeboren, studierte Mathematik und war auf der Suche nach einem Nebenjob. Ein Kumpel erzählte ihm von der Deutschen Oper Berlin: Da bekomme man 25 DM, wenn man im Kostüm mit Lanze auf der Bühne rumstehe. So kam Kuntze an die Oper: als Komparse. Sei es Zufall oder Schicksal, geriet er in eine Bühnenprobe des schon damals genialen Regisseurs und Malers Achim Freyer. Die Bildersprache Freyers änderte Kuntzes Leben: Er beschloss, Abschied von der Mathematik zu nehmen und ans Theater zu gehen.
Seit 2011 ist Kuntze nun Generalintendant des thüringischen Theaters Altenburg Gera, stemmt um die 25 Neuproduktionen in fünf Sparten pro Jahr, inszeniert Operette, Oper und Sprechtheater – und komponiert die Musik fürs Weihnachtsmärchen auch mal selbst. Aber erst jetzt konnte sich Kuntze für die frühe Inspiration bei Achim Freyer bedanken: Freyer, mittlerweile 90, inszenierte – mit einer spektakulären Premiere im Oktober – im Großen Haus in Gera den »Fliegenden Holländer« von Richard Wagner.
Schwarz, Weiß, Dunkelblau und Violett sind darin die Farben; stilisierte Totenköpfe, ein gezeichnetes Schiff und kindskopfähnliche Masken bestimmen das Bühnenbild. Es ist von einem doppelten Rahmen umgeben: Es geht Freyer nicht nur um Träume, sondern auch um das Träumen vom Träumen. Der Matrosenchor ist zugleich der Chor der Geister, indem die Sänger Schilder mit Fratzen hochhalten.
Das Schlussbild aber gehört der Amme der toten Liebenden Senta: Die Alte schwingt eine Peitsche, mit der sie weiterhin Frauen in den Dienst des Patriarchats treiben wird. Vielleicht ist es typisch, dass man eine so aufschlussreiche Inszenierung im kleinen Gera und nicht etwa bei der Stiftung Oper in Berlin sieht, wo zunehmend aufgeblähte Technikdesaster den Spielbetrieb beherrschen.
Es geht um menschliche Dinge, um Liebe, Eifersucht und Tod, um die innere und äußere Natur in diesem finsteren Märchen, zu dem Wagner sich von Heinrich Heine und Freyer von Kay Kuntze anregen ließ. Der »Holländer« in Gera ist eine Auftragsarbeit – und obwohl Freyer mit Ausstellungen und Inszenierungen fast ausgebucht ist, mochte er aus Lust am Thema nicht ablehnen.
Die Geschichte ist skurril genug. »Der fliegende Holländer« lebt seit Jahrhunderten auf hoher See, er ist dazu verdammt, nur alle sieben Jahre an Land gehen zu dürfen: auf Brautschau. Nur wenn er eine Frau findet, die ihm bis in den Tod treu ist, wird er erlöst, darf sterben. Mit Senta, Tochter eines Geschäftsmannes, hat er Glück: Sie liebte den Holländer schon, bevor sie ihn kannte, weil eine Ballade sein Schicksal erzählt. Sentas Vater will sie sowieso dem Holländer geben, für dessen Reichtum. Doch weil sie einen Verehrer hat, der ihr Treuebruch vorwirft, wendet sich der Holländer von ihr ab. Um ihn trotzdem zu retten, springt Senta in den Tod. Bei Freyer tötet auch ihr Verehrer, der Jäger Erik, sich selbst.
Ich frage Achim Freyer, ob Bertolt Brecht, dessen Meisterschüler er am Berliner Ensemble war, mit der Parole »Ändere die Welt, sie braucht es« eigentlich noch aktuell ist. »Natürlich«, sagt er und fügt an: »Richard Wagner war in jungen Jahren Bakunin-Anhänger.« Michail Bakunin war Anarchist, stetig im Konflikt mit Karl Marx, aber im theoretischen Streben nach einer vollkommen freien Gesellschaft auch beispiellos. Freyer: »Es geht im ›Holländer‹ um die Folgen von Geld und Macht, auch um Erlösung. Das reaktionäre Material von einem geldgierigen Vater, der seine Tochter verkaufen will, ist hier die Kritik an der Gesellschaft. Denn Wagner war ein Kämpfer gegen das Reaktionäre.« Von seinem Antisemitismus mal abgesehen. Freyer weiter: »Das Bild ist bei Wagner noch stärker als der Mythos: Senta macht sich ein Bild vom Holländer.«
Sich ein Bild von etwas machen. Eine Meinung haben. Etwas vertreten. Sich nicht nur berieseln lassen. Kunst als Gegensatz zu Konsum. Für Achim Freyer, der zunächst als Maler, Bühnen- und Kostümbildner tätig war und bis heute die Probenpausen am Theater oft nutzt, um zu malen, sind die Symbole und Absichten von Kunst wesentlich. Jeden Sonntag kann man seine illustre Bildersammlung im Kunsthaus der Achim-Freyer-Stiftung in Berlin besichtigen. Sie hat jene bunt-belebende, dennoch harmonisch-aufklärende Aura, die auch Freyer selbst ausstrahlt.
Inhalt und Form gehen Hand in Hand, die Ästhetik darf mit moderner, stilisierter Schönheit provozieren. Wer genau hinsieht, erkennt Wurzeln im Expressionismus. 1972 nutzte Freyer eine Reise in den Westen, um sich abzusetzen. Zu eng, zu drangsalierend war ihm der Osten, in dem er ständig Gefahr lief, wegen vermeintlicher Dekadenz kaltgestellt zu werden.
Doch die große Freiheit gab es auch im Westen nicht: »Ich habe sofort wie gefesselt gemalt, als ich im Westen war: in Freiheit gefesselt«, so Freyer. Und weiter: »Die Freiheit ist ein schöner Trick, um Unfreiheit durchzusetzen.« Das deutsche Wort »Freiheit« kommt übrigens von »fri-halsa«, was bedeutet, dass man einen freien Hals hat und einem der eigene Hals ganz selbst gehört. Im »Holländer« steht diese Freiheit im Abseits; keine Figur ist frei, in keiner Sekunde. Aber alle streben ihr nach.
Für Gera ist die Inszenierung von Freyer etwas Besonderes. Dennoch passt sie ins Konzept, in dem es um höhere Wahrheiten und alternative Welten geht, die das Publikum vor Ort ansprechen müssen. Der »Holländer« ist nicht Freyers erste Wagner-Inszenierung. Aber zum ersten Mal lässt er alle Auftretenden zugleich Träumer sein. »Sie kommen nur nie zusammen. Immer, wenn jemand jemandem nahe kommen will, ist die Zeit schon verschoben«, sagt er. So treiben Senta, Erik und der Holländer hilflos umeinander, angetrieben vom profitgierigen Vater Sentas und der peitschenden Amme. »Die sinnlose Disziplin, die diese Amme verkörpert, existiert weiter«, sagt Freyer, der die Menschheit gern von manchen Zwängen erlösen würde.
Im Theater erlebte er mal, wie ältere Zuschauer junge Leute vergraulten, weil die ihnen nicht ruhig genug waren. Die Jugend müsse man aber viel stärker an Kunst heranführen, findet Freyer, als das derzeit der Fall sei. Dabei solle es um das Wecken von ästhetischen Bedürfnissen gehen, nicht um stumpfsinniges Bedienen des denkbar niedrigsten Niveaus.
Warum er der jungen Welt ein Interview gibt? »Um den Kampfgeist zu entwickeln«, sagt er. Denn das weiß einer der bedeutendsten Künstler unserer Zeit mit Sicherheit: »Wir müssen, mit Brecht gesagt, die Welt täglich ändern.«
Nächste Aufführungen: 8. Dezember 2024, 3. Januar 2025
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