Ins Ungewisse
Von Andreas Schäfler»Man kann nicht anders, als an all diese Meister und Helden zu denken, denen man als Kind zugehört hat. Die Chance zu bekommen, ihnen Tribut zu zollen und zu versuchen, etwas von dieser Essenz weiterzutragen, ist eine riesige Ehre.« Gab Pianist Gerald Clayton im Vorfeld dieser Platteneinspielung brav zu Protokoll. Nach den ersten paar Takten regt sich aber ein ganz anderer Verdacht: Hat das Album nicht eher eine unverhoffte Stilrevolte im Sinn? Will der Jazz, der einen hier anspringt, sich gerade runderneuern?
Man hätte ja nichts dagegen, wenn nach Jahrzehnten wieder einmal so Bahnbrechendes geschähe wie seinerzeit auf John Coltranes »A Love Supreme«, Miles Davis’ »Kind of Blue« und »Bitches Brew« oder Ornette Colemans »Free Jazz« – alles Aufnahmen, die diese per se schon wandlungsfähige Musik einst in neue Aggregatzustände überführten.
Ob man es bei »Motion I« von Out Of/Into wirklich mit einem emblematischen Werk zu tun hat, wird sich später zeigen müssen. Erst einmal brodelt, züngelt und zischt die Musik – den formelhaften Namen von Band und Album zum Trotz – sehr verführerisch und entwickelt sofort eine hochgradige Intensität. Für diese wilde Entschlossenheit sind fünf jederzeit gleichberechtigte Musiker verantwortlich: Pianist Gerald Clayton, Altsaxofonist Immanuel Wilkins, Joel Ross an Vibraphon und Marimba, Schlagzeuger Kendrick Scott und Matt Brewer am Bass.
Auf einen Leader wie damals noch die Jazz Messengers unter Art Blakey können sie verzichten, und aufgetrumpft wird eh lieber im Kollektiv als in ekstatischen Solis. Out Of/Into entführen den Spirit der Jazzhistorie ins Hier und Heute, ohne den alten Kämpen mit Zitaten zu huldigen, aber auch ohne bilderstürmerische Attitüde. Das Stilbewusstsein dieser Band ist abgeklärter als das der Young-Lions-Erneuerer um Chico Freeman und Kevin Eubanks vor 30 Jahren. Und nicht so konzeptverliebt wie das der M-Base-Leute um Gary Thomas und Greg Osby vor 20.
Die Bandmitglieder sind, wen wundert’s, schwer vorbelastet, begannen in der Jugend durch die Bank mit Kirchenmusik und wuchsen in den Jazz schon per Familientradition hinein, Pianist Gerald Clayton ist gar der Sohn der Bassisten-Legende John Clayton. Schön und gut, auf den Schultern von Riesen zu stehen, müssen sie sich gesagt haben, aber nachdem man das Rüstzeug beherrscht, sollte es nun um die eigenen Abenteuer gehen! Diesbezüglich am weitesten hat sich bisher Joel Ross aus dem Fenster gelehnt, dem schon länger der Ruf eines interessanten Rädelsführers vorausgeht. Das Vibraphon ist an sich keine vorlaute Gerätschaft, aber in den Händen von Ross, der es gleichzeitig perkussiv und melodisch einsetzt und manchmal dazu noch mit Claytons aberwitzigem Klavierspiel kurzschließt, wird es zum Trance-Instrument. Und hat man schon mal eine so taktlose Frechheit gehört wie Matt Brewers freischwebendes Bassintro von »Aspiring to Normalcy«? Es verweigert sich jedem vorhersagbaren Verlauf, so wie die Band auch im Ensemblespiel verschärfte Routen durch extremes Gelände favorisiert. Und Verlegenheitslösungen, etwa eine halbherzige Kollektivimprovisation, weil man anders gerade nicht weiterwüsste, sind hier eher verboten.
Anfang des Jahres tourten die fünf unter dem Namen The Blue Note Quintet als Aushängeschild ihres Labels zu dessen 85jährigem Bestehen durch die USA und holten sich den Schwung für den nächsten großen Schritt. Wirklich knisternd Neues ereignet sich im Jazz normalerweise eher an der Peripherie als im etablierten Zentrum des Genres – um dann flächendeckend vielleicht ein paar Hundertschaften Eingeweihter zu erreichen. Auf »Motion I« läuft das gerade andersherum: aus dem Bewährten heraus ins verlockende Ungewisse, und zwar nicht mit einem noch nie dagewesenen Stilmix, auch nicht mit dem prätentiösen Jam-Band-Groove des vermeintlichen Heilsbringers Kamasi Washington, sondern im selbstbewussten, aber nie kraftmeierischen Sound einer zeitgenössischen Jazzkohorte.
Out Of/Into: »Motion I« (Blue Note/Universal)
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