Vorsicht, Neujahrskonzerte!
Von Karl WimmlerVon allen Künsten lässt sich die Musik am leichtesten für die jeweils Mächtigen instrumentalisieren. Wer sich heute verwundert oder empört gibt, dass auf dem Reichsparteitag der NSDAP 1935 Beethovens Egmont-Ouvertüre und seine 5. Symphonie aufgeführt wurden, sollte sich vielleicht auch mit der Aufführungspraxis der musikalischen Klassik in heutigen Zeiten beschäftigen. Oder über die Benutzung einer Melodie aus dessen 9. Symphonie für die EU-Hymne nachdenken.
Nicht wenige Werke der musikalischen Klassik galten zunächst als hässlich, unverständlich oder unspielbar. Heute haben sich die Ohren daran gewöhnt, und nicht wenige dieser Werke werden auch von vielen Menschen mit positiven Empfindungen verbunden, die mit musikalischer Bildung wenig am Hut haben. Das mag auch daran liegen, dass die gängige Konzertkultur häufig keine in der Musik ursprünglich vorhandene Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit kennt, Widersprüche ignoriert und eine gefühlsmäßige Versöhnung mit der Welt und der Gesellschaft befördert.
Dies ist bei all den Neujahrskonzerten sehr gut beobachtbar. Vielleicht am besten dort, wo die besonders eingängigen Werke gespielt werden, beispielsweise beim in viele Länder übertragenen Wiener Neujahrskonzert. Auch wer kein besonderes Faible für Walzer- und Marschmusik hat, kann sich häufig dem Zauber musikalischer Qualität nicht entziehen und wird einbezogen in die allgemeine Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung. Dies ist unabhängig davon, wer das Konzert gerade dirigiert. Diesmal wird es zum siebenten Mal Riccardo Muti sein, zuletzt war es zum zweiten Mal Christian Thielemann.
Nun kann man an diesen Veranstaltungen über das Obige hinaus vieles bedenken und kritisieren, den Starkult um die Dirigenten (noch selten Dirigentinnen), deren beachtliche Gagen, die hohen Kartenpreise in den häufig pompösen Konzertsälen und anderes mehr. Vor einem Jahr meinte sich die langjährige Rektorin der Akademie der bildenden Künste Wien und Kultursprecherin der Partei Die Grünen, Eva Blimlinger, justament an dem in Wien als Kult geltenden Radetzky-Marsch von Johann Strauss (Vater) abarbeiten zu müssen, beklatscht von diversen angeblich »kritischen« Zeitgenossen. Dieser Marsch sollte aus dem Programm des Neujahrskonzerts gestrichen werden, meinte sie, und das begeisterte Mitklatschen sei besonders von Übel. – Radetzky war Heerführer der Habsburger, Wiedereroberer der Lombardei mit Verdiensten bei der Niederschlagung der Aufstände im Jahr 1848, insbesondere der Arbeiterschaft, dem Strauss mit diesem Marsch huldigte. Dass Thielemann, was Muti wohl nicht passieren könnte, sein Neujahrskonzert mit dem musikalisch nicht gerade hochwertigen »Erzherzog-Albrecht-Marsch« von Karl Komzák startete – ein Komponist, der unter anderem den »Gothenmarsch« für die schlagende deutschnationale Studentenverbindung Gothia Innsbruck komponierte, die 1938 beschloss, in den Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund überzutreten –, störte niemanden. Und auch Thielemanns Verehrung eines ganz anderen Strauss, namentlich Richard Strauss (1864–1949), wird selten damit bekrittelt, dass dieser Strauss noch im Jahr 1943 ein Danklied an Hans Frank, den »Judenschlächter von Krakau«, komponierte und auch noch selbst den Text dazu schrieb.
Der Wiener Hanns Eisler, bekanntlich auch Komponist einer Hymne, wusste, dass die Musik, »weil sie keinen begrifflichen Stoff hat, von allen Künsten die der Politik entfernteste« ist. Er konnte daher unterscheiden zwischen dem Anlass einer Komposition und dem künstlerischen Ergebnis. Eisler, der die musikalische Qualität des Radetzky-Marsches anerkannte, schrieb im Jahr 1952 an einen SED-Funktionär, der die politische Hellsichtigkeit Beethovens verklärte, unter anderem: »Lass Dir einmal die ›Abschiedssonate‹ vorspielen, in der Beethoven seinen devoten Kummer ausdrückt, dass sein kaiserlicher Schüler, Erzherzog Rudolf, für einige Wochen auf Reisen geht. Es ist aber trotz dem jämmerlichen Anlass und der kriecherischen, unangenehmen, verlogenen Widmung ein geniales Werk, neuartig und kühn in seiner Technik.«
Ob man Neujahrskonzerte mag oder nicht – politische Kritik sollte Hand und Fuß haben und gerade bei Musik auf primitive Reflexe verzichten.
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