»Bei uns war es eher der Mittelfinger«
Völlig uninteressant ist es, dass Götz Widmann 1965 in Bad Brückenau schreiend die Stadt in Atem hielt und die Familie dann gleich nach Heidelberg umzog. Nun wohnt er seit 1994 in der ehemaligen Hauptstadt der BRD, im Provinznest Bonn, und teilweise in Biglen, in der Schweiz. Bevor Widmann so richtig in die deutsche Musik eingriff, studierte er zunächst etwas Germanistik und Geschichte, wechselte dann zum BWL-Studium. 1993 traf er dann auf das Arbeiterkind Martin Simon, der die ganz hervorragenden Berufe Installateur und Gastronom ausübte. Sie verbanden Anarchie und Musik zum Liedermaching. Nach dem plötzlichen Tod von Martin Simon macht Götz solo weiter. Nun gibt es das neue Album, und wir sprachen mit ihm. (ThoBeh)
Es ist nur schwer vorstellbar, aber falls es wirklich Menschen gibt, die Sie nicht kennen, wie würden Sie sich beschreiben, würden Sie sofort sagen, dass Sie Musiker sind?
Ich bin wahrscheinlich am ehesten Musiker im Nebenberuf. Die Leute kommen ja nicht zu meinen Konzerten, weil ich so toll singe oder Gitarre spiele. Bei mir sind es ganz klar die Texte und so ein bisschen auch das Lebensgefühl bei meinen Konzerten, was die Sache interessant macht.
Welches Ihrer Alben müsste der Unkundige unbedingt anhören, damit er von Ihnen nicht mehr wegkommt?
Ich sag mal drei, okay? »Extremliedermaching« von meiner alten Band Joint Venture, mein Livealbum »Drogen« von 2003 und ganz unbedingt mein neues Album »Blütenduft«.
Das Liedermaching haben Sie ja erfunden. Wie sind Sie darauf gekommen und wie überhaupt zur Musik?
Der ursprüngliche Begriff war ja Extremliedermaching. Den hat Hennes, der Sänger von unserer Essener Lieblingsband Die Heuchler, in den späten Neunzigern geprägt, als wir mal wieder mit all unseren Freunden auf einem Hippiebauernhof am Niederrhein bei einem exzessiven Festival feierten. Es war der Versuch, sich von den ganzen oberlehrerhaften Liedermachern abzugrenzen. Die kamen gern mit erhobenem Zeigefinger, bei uns war es eher der Mittelfinger. Ich fand es schon immer schwer, das, was ich mache, in ein Wort zu fassen. Der Begriff ist auch in die Jahre gekommen. Eigentlich ist es Punkrock …
Dann gab es das Projekt Joint Venture mit Martin Simon. Wie kam es dazu? Wenn Martin nicht überraschend gestorben wäre, gäbe es Joint Venture jetzt noch, und wäre er mit nach La Palma?
Joint Venture war der Startschuss zu allem. Ohne Martin wäre ich niemals Liedermacher geworden. Wir wollten eigentlich zusammen eine Doktorarbeit schreiben, aber dann ist Martin aus seinem Job in dem Hotel rausgeflogen, wo wir das geplant hatten. Als verzweifelte Reaktion tranken wir uns sehr viel Mut an und entschieden uns, hauptberuflich Musik zu spielen. Auf La Palma gibt es das beste Outdoor-Gras, das ich kenne. Da wäre er bestimmt dabei gewesen.
Auf La Palma haben Sie das neue Album »Blütenduft« aufgenommen. Warum denn gerade in dieser abgeschiedenen und nicht ungefährlichen Gegend?
Ein Freund von mir hat dort ein wunderbares Gelände, alles extrem hippiesk und naturnah. Genau deswegen eine Sieben-Sterne-Unterkunft für eine Albumaufnahme, wie ich sie vorhatte. Wir bauten uns in einem kleinen alten Kanarenhaus das Studio auf. Der Sound war warm und natürlich. Wir hätten in Deutschland in einem professionellen Studio dafür richtig viel Geld ausgeben müssen. Der Regie- und Abhörraum war einfach draußen vor dem Haus, eine Terrasse auf einem Wassertank mit Panoramameerblick.
Wie haben Sie die ganze Technik nach La Palma gebracht? Nicht etwas mit dem Auto?
Wir sind wirklich mit einem Auto voller Technik bis Huelva, dann mit der Fähre, schließlich Teneriffa und endlich La Palma. Jeweils eine Woche waren wir unterwegs, hin und zurück. Für die Übernachtungen buchten wir Apartments oder Hotelzimmer im Erdgeschoss, da wir die Sachen nicht im Auto lassen konnten. War jeden Tag ein kleiner Umzug. Auf der Autopista del Sol sind zweimal Typen an uns vorbeigefahren und gaben uns Zeichen, dass mit dem Auto etwas nicht stimmt. Sie drängten uns an den Randstreifen. Angeblich würde ein Reifen qualmen, und sie wollten vor uns herfahren, bis zur nächsten Werkstatt. Wir lehnten dankend ab und fuhren schnell weiter. Fünf Minuten später kamen die Nächsten und winkten wie Blöde und zeigten auf die Reifen. Unsicher fuhren wir an einen Rasthof. Diesmal sollte unsere Achse eiern. Später fanden wir heraus, dass das richtige Banden sind und wir an einem totalen GAU vorbeigeschlittert sind.
Warum der Name »Blütenduft«? Roch es so angenehm auf der Insel?
Ursprünglich wollte ich es »Rausch« nennen, doch mein Freund Norman meinte dann, dass das letzte Album von Helene Fischer so heißt. Das war bitter. Zum Glück ist mir »Blütenduft« eingefallen. Ich nehme für Albumtitel gern Begriffe, die in einem Song vorkommen, wie eben »Blütenduft« in »Romi«. Und es gibt auf La Palma wirklich tolle Aromen und Düfte.
Musikalisch geht es in Windeseile von Rock (»Großkonzern«) über musikalische Erzählungen (»Romi«, »Funke«) bis hin zu Tanzrhythmen (»Trinkerdisneyland«). Ist da Selbsterlebtes dabei wie eventuell bei »Krankenwagen«?
Bei meinen Songs ist immer viel Autobiographisches dabei. An meiner Arbeitsweise hat sich seit über 30 Jahren nichts geändert: Ich setze mich an meinen Schreibtisch oder noch lieber in die Küche, mache mir ein Bier auf, bau einen … und dann geht’s los. Funktioniert phantastisch und ist extrem zuverlässig, irgendwas kommt immer dabei raus.
Es ist doch bestimmt eine große Tournee geplant, mit Festivals im Sommer?
Ich bin ab sofort auf Tour, die bis in den Sommer 2025 geht. Einige Songs vom neuen Album werden zu hören sein, denn das sind meine Lieblingsbabys, die ich der Welt zeigen will. Den Rest des Abends möchte ich so locker wie möglich gestalten und ohne festes Programm einfach spielen, was die Leute sich wünschen.
Götz Widmann: »Blütenduft« (Ahuga!)
Tourtermine (Auswahl): 7.1. und 8.1.25 Leipzig, 10.1. und 11.1.25 Berlin, 7.2. und 8.2.25 Erfurt
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