Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
Gegründet 1947 Freitag, 10. Januar 2025, Nr. 8
Die junge Welt wird von 3005 GenossInnen herausgegeben
Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025 Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
Aus: Ausgabe vom 10.01.2025, Seite 6 / Ausland
Türkei

Keine Heimat

Türkei: Geflüchtete aus Syrien haben einen schweren Stand. Die Freude über den Umsturz in Damaskus weicht Ungewissheit
Von Yaro Allisat, Istanbul
6.JPG
Das Leben syrischer Geflüchteter in der Türkei ist prekär (Adıyaman, 15.2.2023)

Ali läuft jeden Tag durch Fatih, ein Viertel auf der europäischen Seite Istanbuls, in einer Hand einen Koffer mit Schuhcreme und Bürste, an der anderen Hand seinen achtjährigen Sohn Ali. Sie gehen von Hotel zu Hotel in den von Touristen frequentierten Straßen, setzen sich vor die Eingangstüren und bieten den Gästen an, ihre Schuhe zu putzen. Meist gehen die Leute vorbei, erzählt Ali in abgehacktem Englisch, man fühle sich wie Dreck. Er, seine Frau und die insgesamt drei Kinder kommen aus Syrien, aus einer seit 2018 von der Miliz Haiat Tahrir Al-Scham (HTS) kontrollierten Stadt nahe Idlib. Ihr Haus wurde komplett zerstört, Alis Eltern und Geschwister sind alle tot. Hier lebt die Familie auf der Straße, weil das Geld für eine Wohnung fehlt.

Wie 80 Prozent der Syrer in der Türkei übt Ali eine informelle Arbeit aus, also eine Beschäftigung ohne offizielle Erlaubnis. 2020 lebten laut dem UNHCR 3,6 Millionen syrische Geflüchtete unter »temporärem Schutz«, einem Status ähnlich dem Flüchtlingsschutz in der Türkei, das war rund die Hälfte der syrischen Geflüchteten weltweit. Knapp 240.000 besitzen die türkische Staatsbürgerschaft. Diese große Zahl resultiert zum einen daraus, dass Flüchtende aus Syrien die Türkei als direktes Nachbarland zu Fuß erreichen können. Zum anderen werden seit dem EU-Türkei-Deal aus dem Jahr 2016 viele Syrer aus Griechenland in die Türkei abgeschoben. Dabei sind sie dort nicht sicher: Laut Human Rights Watch wurden 2023 rund 57.000 Syrer in ihr Herkunftsland abgeschoben.

Verhasste Freunde

Noch 2014 waren Syrer von der türkischen Regierung unter Recep Tayyip Erdoğan als »Freunde und Brüder« begrüßt worden. Da sie einen wichtigen Teil des informellen Niedriglohnsektors der Türkei stemmen, hatte Ankara ein wirtschaftliches Interesse an ihrer Anwesenheit. Informelle Arbeit bedeutet oft Armut. Zahlen aus dem Jahr 2023 zeigen, dass 941.000 Syrer in der Türkei arbeiten, 862.000 von ihnen informell. Viele arbeiten 50 bis 60 Stunden pro Woche bei einem Durchschnittsgehalt von 1.300 türkischen Lira (rund 35 Euro), während der Mindestlohn bei 1.400 Lira liegt. Viele männliche Kinder müssen zudem ab einem jungen Alter arbeiten, um ihre Familien zu unterstützen.

Mit der sich verschärfenden Wirtschaftskrise in der Türkei wurden die Syrer jedoch zu Erdoğans Sündenbock, der dadurch seine sinkende Popularität ausgleichen wollte. Die Syrer seien es, die die Türken aus dem informellen Niedriglohnsektor verdrängten. Laut Gesetz müssen nun 75 Prozent der Beschriftungen an Geschäften in türkischer Sprache (anstatt auf arabisch) verfasst sein. Im ganzen Land wurden Syrern in den vergangenen Jahren die finanziellen Hilfen gekürzt, sowohl von Erdoğans AKP als auch der sozialdemokratischen CHP. Politiker der großen Parteien sprachen schon 2019 davon, die Syrer »loswerden« zu wollen. Vermehrt führte der Staat Razzien durch, um unregistrierte Geflüchtete aufzufinden und abzuschieben. Zuletzt kam es im syrisch-türkischen Grenzgebiet in der Stadt Kayseri zu Ausschreitungen, bei denen Geschäfte und Autos syrischer Geflüchteter zerstört und in Brand gesteckt wurden. Rund 470 Personen wurden festgenommen. Mittlerweile wollen rund 80 Prozent der Menschen in der Türkei, dass Syrer in ihr Herkunftsland gehen.

In den ersten zwei Wochen nach dem Sturz des syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad sind laut offiziellen Angaben 25.000 Syrer freiwillig aus der Türkei nach Syrien zurückgekehrt. Medienberichten zufolge wollen viele wegen des zunehmenden Hasses in der Türkei zurückkehren. Doch Ali will nicht zurück, auch wenn er hier kein gutes Leben hat. »Nur Probleme«, antwortet er und winkt ab. Und weiter nach Europa? Wie denn, ohne Geld und mit drei Kindern?

Gedämpfte Hoffnung

Anders ist es für die 28jährige Tasnim. Wir treffen uns Ende Dezember in einem syrischen Café im Istanbuler Stadtteil Fatih. Rund 30 Syrer sind zu einem Austausch über die aktuelle Lage gekommen. Fast alle haben studiert und arbeiten in gutbezahlten Jobs. Tasnim ist fast mit ihrem Umwelttechnikstudium fertig. Jetzt sei es noch zu früh, Entscheidungen zu treffen, sagt sie, aber wenn die Lage in ein oder zwei Jahren ruhiger sei, möchte sie zurückkehren, um ihr Land mit aufzubauen. Ihre Eltern, ebenfalls Akademiker in wirtschaftlich guter Position, haben die Koffer bereits gepackt. Die Familie war 2016 in die Türkei gekommen, nachdem drei Jahre zuvor erst der Vater und dann die Mutter mehrere Monate in Foltergefängnissen festgehalten worden waren – laut Tasnim ohne jeglichen Grund, die Eltern seien nicht politisch aktiv gewesen. Viele ältere Syrer wollten nun zurückkehren, so Tasnim, da sie ihr ganzes Leben in Syrien verbracht hätten, wobei die jüngeren noch skeptisch seien. Auch in der Gesprächsrunde im Café erzählen die meisten, dass sie die Entwicklungen in Syrien beobachten, niemand hier hat aktuell Pläne zurückzugehen.

Die Anfangseuphorie nach Assads Sturz wird zunehmend gedämpft, da immer mehr Bilder von Foltergefängnissen und Massengräbern auftauchen und klar wird, dass ein Syrien unter der HTS keineswegs ein freies Land sein wird. Tasnim ist noch positiv gestimmt. »Der Tag von Assads Sturz war wunderbar, die Straßen waren voller feiernder Menschen hier in Istanbul«, sagt sie. »Wir haben Süßigkeiten mit in die Uni gebracht. Die Leute haben uns umarmt. Und sie haben zum ersten Mal gesehen, wie schlimm es in Syrien war.«

Die Türkei steht sich gut mit dem neuen Machthaber Al-Dscholani, mit bürgerlichem Namen Ahmed Al-Scharaa. Ihre Kräfte in Syrien, insbesondere die Syrische Nationalarmee (SNA), waren gemeinsam mit der HTS an Assads Sturz beteiligt. Der türkische Außenminister Hakan Fidan zeigte sich demonstrativ freundschaftlich mit Scharaa. Die Türkei hat zahlreiche Militärbasen in Syrien und dürfte sich durch die veränderten Machtverhältnisse einen endgültigen Sieg über die kurdischen Kräfte in Syrien und der Türkei erhoffen. Die massive militärische Intervention drängt nicht zuletzt Menschen erneut zur Flucht, während Erdoğan politischen Profit aus dem Hass auf Syrer zieht.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

Ähnliche:

  • Die Kontrolle über den Tischrin-Staudamm hat seit 2012 mehrfach ...
    09.01.2025

    Bomben auf Staudamm

    Nordsyrien: Drohender Kollaps von Talsperre infolge türkischer Angriffe
  • Zeigen, was man hat: Militärparade der zu HTS gehörenden »Khaled...
    06.01.2025

    Bestens informiert

    USA und mit ihnen verbündete Milizen nahmen am Sturz Assads in Syrien teil
  • »Feministische Außenpolitik« in der Praxis: Antrittsbesuch von B...
    04.01.2025

    Die ausgestreckte Hand

    Syrien: Außenministerin Baerbock bei Regent Al-Scharaa in Damaskus. US-Armee errichtet Militärbasis in Kobani

Mehr aus: Ausland