Die Sehnsucht, Mensch unter Menschen zu sein
Von Irmtraud Gutschke
Vom Zugfenster aus erkennt der Autor nur Variationen von Grau: die Berge, die Häuser mit niedrigen Dächern, die Bauern in ihren Wattejacken. Und plötzlich sind da »Frauen mit leuchtend roten Kleidern, mit roten Jacken, roten Westen, roten Bändern, roten Kopftüchern«. Kurdinnen, mit ansässigen Viehzüchtern verheiratet? Revoltierten »sie mit dem Rot gegen die grauen Jahrhunderte, verbracht zwischen grauem Stein?«
Beobachtungen und Fragen: Alles andere als gängige Reiseliteratur ist dieser Text, der 1962 bis 1963 entstand. Wassili Grossman war ein bekannter sowjetischer Schriftsteller. Während des Großen Vaterländischen Krieges Korrespondent der Armeezeitung Roter Stern, hat er sich ab 1946 durch mehrere Romane einen Namen gemacht, allen voran »Stalingrad«, 1961 bei Dietz Berlin veröffentlicht und 2022 bei Claassen unter dem Titel »Wende an der Wolga«, schon ohne die Eingriffe der Zensur. Immer wieder setzte sie dem Autor zu. Im Februar 1961 kam es besonders schlimm: Sein Romanmanuskript »Leben und Schicksal« – zehn Jahre hatte er an den über 1.000 Seiten gearbeitet – wurde vom KGB beschlagnahmt, denn Bilder aus sowjetischen und nazistischen Straflagern kamen darin vor. Da war der Auftrag zu einer Armenien-Reise wohl ein Trostpflästerchen gewesen. »Die Parteiführung wollte den Bogen nicht überspannen, wollte dem Schriftsteller Annehmlichkeiten bieten, um ihn nicht etwa zu unüberlegten Schritten zu provozieren«, mutmaßt die Übersetzerin Christiane Körner. Ein Nachwort liest man ja meist zum Schluss, doch ist es für die Lektüre von Grossmans Text erhellend zu wissen, welches Trauma er mit sich herumschleppte. Der Auftrag, einer Interlinearübersetzung von Hratscha Kotschars zweibändigem Roman »Die Kinder aus dem großen Haus« stilistischen Schliff zu geben, verschaffte ihm dringend notwendige finanzielle Einnahmen und hätte auch von Moskau aus erledigt werden können, was der Autor wohl wusste.
So rührt die starke Wirkung des Buches aus den armenischen Eindrücken, aber auch aus den Bedrückungen, die der Autor mit sich herumträgt. Warum hat ihn in Jerewan niemand vom Bahnhof abgeholt? In der Gepäckaufgabe gibt er seinen schweren Koffer ab, läuft durch die Straßen, genießt es, wie in ihm selbst »die Stadt eines ganz bestimmten Menschen« entsteht. Sie wird mit ihm zusammen sterben. Warum denkt er jetzt daran? 1964, mit nicht mal sechzig ist Grossman tatsächlich gestorben – an Nierenkrebs.
Ein russischer Kritiker hat dieses Buch als Poem bezeichnet. Für mich ist es ein Essay, in dem sich konkrete Eindrücke mit weitreichenden Reflexionen mischen. Gleich am Anfang geht es um das riesige Stalin-Denkmal in Jerewan. Die Übersetzerin findet es »befremdlich«, wie im Buch auch Stalins Verdienste erwähnt werden. Tatsächlich war das in Zeiten der Entstalinisierung in der Sowjetunion nicht opportun. Dass aber Leute einst dem Diktator zujubelten und ihn dann verdammten, gibt dem Autor zu denken. Wie ihm überhaupt alles zu denken gibt: die Armut, die er sieht, das selbstgefällige Gehabe jenes Literaten, der ihn auf der Reise begleitet und nicht einmal die Armenien-Gedichte von Mandelstam kennt, die Unterschiede zwischen den kühlen Städtern, für die er nur der »Fremde aus Moskau« ist, und den Dorfbewohnern, bei denen er sich als »Mensch unter Menschen« fühlen kann.
An Grenzen fahren sie vorbei: zur Türkei, zu Aserbaidschan. Aber in seiner Seele sucht er die ganze Zeit das Entgrenzende. Ein Sonnenuntergang im Gebirge – so großartig hat er das beschrieben! – wirkt auf ihn wie eine Offenbarung. »Bei solchen Gelegenheiten also trinkst du viel, du willst auf Biegen und Brechen ins Paradies, willst dich der Schwermut aus den Fängen reißen, der grundlosen Verzweiflung, dem Selbstekel, dem Gefühl brennender Kränkung …« Wie schonungslos er gegenüber sich selbst ist, wie selbstironisch auch. Das war selten in der damaligen sowjetischen Literatur. Und nicht einmal das verschweigt er: wie er unterwegs dringend einen Ort sucht, seine Blase zu entleeren.
Armenische Kirchen. Aber ist da wirklich Glaube? Wie hat sich der Geist des Christentums (300 Jahre vor den Russen angenommen) mit dem des Heidentums vermischt? Dazu müssen wir wissen, dass Grossman als russischer Schriftsteller aus einer aristokratischen jüdischen Familie stammte und zusammen mit Ilja Ehrenburg an einem stark zensierten »Schwarzbuch« über die Naziverbrechen an den Juden auf dem Territorium der Sowjetunion gearbeitet hat. Dass es auch sowjetischen Antisemitismus gab, hat er zu spüren bekommen. So beschäftigt ihn auf seiner Reise das Problem des Nationalismus, inklusive des russischen. Wobei er sich den Armeniern gerade deshalb nahe fühlt, weil auch sie in der Vergangenheit so viel Leid erduldet hatten. Besonders gerührt war er, als bei einer Hochzeit in den Bergen ein alter Mann, der im Krieg gewesen war, seinem Mitgefühl für die Juden Ausdruck gab. Aber gerade diese Szene sollte für die Publikation in Moskau gestrichen werden. Grossman weigerte sich. So kam der Text zuerst in Armenien heraus.
Eine Suche nach einer alles verbindenden Menschlichkeit, einer Güte, die politischen Geboten notfalls auch trotzt. Und das in Zeiten des Kalten Krieges. Aber er hatte wohl zu viel gesehen und erlebt, um darauf irgendwie Rücksicht zu nehmen.
Wassili Grossman: Armenische Reise. Aus dem Russischen von Christiane Körner. Claassen, Berlin 2024, 206 Seiten, 24 Euro
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