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Aus: Ausgabe vom 27.01.2025, Seite 4 / Inland
Jüdischer Aktivist vor Gericht

Sündenbock der Nazienkel

Jüdisch-israelischer Aktivist vor Gericht: Offiziell wegen verbotener Parole, aber offenbar auch wegen Protest gegen Geschichtsrevisionismus
Von Susann Witt-Stahl
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Dror Dayan (zweiter von links) bei einer Pressekonferenz zum Palästina-Kongress in Berlin (13.4.2024)

Dem israelischen Filmemacher und langjährigen Aktivisten der Palästina-Solidarität Dror Dayan wird an diesem Montag der Prozess gemacht. Er muss sich vor dem Amtsgericht Berlin-Tiergarten wegen »Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen« verantworten – ein Straftatbestand, der mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren geahndet werden kann. Die Anklage wird aus einem X-Post konstruiert, in dem Dayan die Parole »From the river to the sea, Palestine will be free« zitiert und deren Nazifizierung durch das Bundesinnenministerium folgendermaßen kommentiert hatte: »Wir lassen die Geschichte nicht umschreiben. Palästina-Solidarität wird nicht zum Sündenbock der Nazienkel. Eure Verbrechen, nicht unsere.«

Besagter Slogan darf hierzulande von zionistischen »Großisrael«-Propagandisten verwendet werden. Drücken Unterstützer Palästinas jedoch damit ihre emanzipatorische Forderung nach einem Ende von Unterdrückung, Landraub und Apartheid durch die israelischen Besatzer sowie den Wunsch nach einem demokratischen Staat für alle seine Bürger aus, folgt seit dem 7. Oktober routinemäßig Kriminalisierung durch Zuordnung zur Hamas: ein Akt der Willkür, der, wie etwa die Historiker Amos Goldberg und Alon Confino ausführen, vor allem der Ablenkung von dem »höchstwahrscheinlich genozidalen Angriff« gegen die Palästinenser dient.

Besonders getriggert haben dürfte deutsche Strafverfolger, dass Dayan mit dem zweiten Teil seines Posts den Geschichtsrevisionismus der Ampelregierung skandalisiert hat, die nicht einmal mehr davor zurückschreckt, die »From the river to the sea«-Parole mit dem Hakenkreuz gleichzusetzen. »Diese zynische Relativierung dient der Täter-Opfer-Umkehr und Verharmlosung der blutgetränkten deutschen Geschichte«, so Dayan gegenüber jW. »Die Palästinenser, die seit fast 80 Jahren unter brutalster Besatzung oder im Exil leben müssen, werden mit der Gestapo auf eine Stufe gestellt, die meinen Großonkel als jüdischen Kommunisten nach Buchenwald verschleppte.«

Dayan – in Jerusalem geborener Nachkomme von Verfolgten der Naziherrschaft aus Berlin – ist seit Jahren ebenso Hasskampagnen aus dem Milieu der »Antideutschen«, die ihn als jüdischen Vaterlandsverräter stigmatisieren, wie Schikanen durch deutsche Sicherheitsbehörden ausgesetzt. Beispielsweise bei der Ein- und Ausreise: Vergangenen Oktober ist er am Flughafen der Hauptstadt festgehalten und durchsucht worden. Die Begründung der Beamten: Dayan habe früher mutmaßlich an angemeldeten Demonstrationen teilgenommen, auf denen »verfassungswidrige Symbole« gezeigt worden seien. Und das Existenzrecht Israels sei in der deutschen Verfassung verankert – eine dreiste Falschbehauptung.

Nun hat die Gewerkschaft University and College Union aus Großbritannien, wo er in Liverpool Medienproduktion und Dokumentarfilm lehrt, eine Onlinepetition für die Solidarität mit Dror Dayan und der Pro-Palästina-Bewegung in Deutschland gestartet. Darin wird auch das historische Versagen der hiesigen Linken bloßgestellt, die sich in Staatsräson übt: »Wir rufen auch alle deutschen Gewerkschaften, insbesondere unseren Partner GEW, dazu auf, ihr beschämendes Schweigen zu brechen und sich gegen diesen Eingriff in die Grundrechte und die Meinungsfreiheit auszusprechen.«

Die »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost« hat für Montag um 10 Uhr eine Solidaritätskundgebung vor dem Gerichtsgebäude angemeldet – der Prozess beginnt um 11 Uhr. Die Wahl des Verhandlungstermins kann Dayan nur als weiteres Zeugnis wachsender vergangenheitspolitischer Ignoranz begreifen: »Es gibt keinen besseren Tag, um einen Juden vor ein deutsches Gericht zu stellen, als den 27. Januar, den Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts.«

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Detlev R. aus Tshwane, Südafrika (27. Januar 2025 um 12:29 Uhr)
    Man kann sich das nicht ausdenken. Anno 2025, am 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz, wird in Deutschland einem jüdischen Filmemacher und Aktivisten der Prozess gemacht. Passend dazu: Zur Gedenkveranstaltung im polnischen Auschwitz selbst, werden die Erben/Nachfolger der Befreier des KZs nicht eingeladen, dafür aber die Erben/Nachfolger der Erbauer des Vernichtungslagers. Wenn mir das jemand vor 20, 30 Jahren prophezeit hätte, ich hätte ihn für verrückt erklärt. Offenbar ist diese unverfrorene, perverse Revision der Geschichte heute Realität in Europa.

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