»Es ist im Grunde eine Klassenfrage«
Interview: Marc BebenrothDie Recherchegruppe »Death in Custody« begann 2019 damit, Fällen nachzugehen und zu dokumentieren, in denen Menschen von der Polizei getötet wurden oder in Gewahrsam starben. Wie hat sich die Zahl der Fälle seither entwickelt?
Wir dokumentieren tatsächlich nicht nur Todesfälle durch Polizeigewalt, sondern auch in Gefängnissen, Abschiebeknästen und auch zum Beispiel in der Psychiatrie. Also in allen Situationen, wo Leute gegen ihren Willen festgehalten werden. Bezogen auf den Zeitraum 1990 bis heute haben wir circa 260 Fälle dokumentiert. Wir gehen aber davon aus, dass es sehr viele Todesfälle gibt, gerade in Haft, von denen wir nicht erfahren. Diese Dunkelziffer ist wahrscheinlich wahnsinnig hoch.
Seit 1. Januar dieses Jahres legen Sie nicht mehr den Fokus auf Fälle mit mutmaßlich rassistischen Hintergründen. Aus welchem Grund und warum jetzt?
Dem ist ein längerer interner Diskussionsprozess vorausgegangen. Seit »Death in Custody« sichtbarer wurde, kam es häufiger dazu, dass uns Menschen Fälle zutragen. Da mussten wir nach unserem bisherigen Vorgehen immer prüfen, ob dieser Fall unsere Recherchekriterien erfüllt. Ein wichtiges Kriterium war bislang diese Rassismusfrage. Dabei stellten wir viele Gemeinsamkeiten zwischen Todesfällen fest, die wir aufnehmen, und denen, wo das nicht der Fall war.
Welche Gemeinsamkeiten sind das?
Da reden wir von Armut, aber vor allem von psychischen Krisen, von sehr prekären Lebenslagen, die im Grunde fast alle Menschen betreffen, die von der Polizei getötet werden oder auf sonstige Arten durch staatliche Gewalt sterben. Es ist im Grunde eine Klassenfrage. Das wollen wir künftig sichtbarer machen.
Weshalb hatte sich »Death in Custody« zu Beginn dagegen entschieden, sämtliche dieser Fälle aufzunehmen?
Unsere Kampagne wurde in Berlin und vor allem von antirassistischen Gruppen initiiert, zum Beispiel von der Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt. Die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland war auch beteiligt sowie der Migrationsrat. So ergab sich unsere Herangehensweise, Betroffene von Rassismus in den Vordergrund zu stellen. Ein anderer Grund war, dass es gerade in dieser Zeit eine Reihe von öffentlich bekannt gewordenen Todesfällen von rassifizierten Personen in Gewahrsam gab: in Berlin zum Beispiel Hussam Fadl, der von der Polizei erschossen wurde oder den Tod von Amed Ahmad durch einen Zellenbrand in Kleve. In Deutschland gibt es keine verlässlichen behördlichen Daten dazu.
Begegnen Ihnen denn nicht – schon allein aus statistischen Gründen – Fälle, wo auch Ihrer Einschätzung nach die Polizei nicht anders handeln konnte?
Das eine ist, dass die Polizei das extrem häufig sagt. Und sehr häufig stimmt es nicht. Das betrifft zum Beispiel diese Aussage: »Der Mensch hatte ein Messer und hat damit die Beamten bedroht oder angegriffen.« In den Fällen, in denen mehr Informationen bekannt werden, zeigt sich teilweise, dass das Messer in Wahrheit gar nicht existiert hat oder zumindest nicht aufgefunden werden kann. Oder dass die Person vielleicht das Messer hatte, aber vor allem sich selbst damit Verletzungen zufügen wollte. Und dann eskaliert die Polizei die Situation. Der Regelfall ist, dass es sich um eine Schutzbehauptung handelt. Fälle, in denen die von der Polizei Erschossenen zum Beispiel vorher selbst auf andere schossen, schließen wir aus.
Was wird durch den Staat oder Einrichtungen mittlerweile dokumentiert und was nicht?
Relativ gut dokumentiert sind polizeiliche Todesschüsse. Die kann man über parlamentarische Anfragen in den Bundesländern in Erfahrung bringen. Und seit Jahrzehnten recherchiert die Zeitschrift CILIP dazu. Was es auch gibt, sind Daten zu Todesfällen in Haft. Diese erstellt jährlich das Bundesjustizministerium auf Grundlage von Daten, die die Länder zuliefern. Da gibt es eine Aufschlüsselung nach Suizid, Unfall und weiteren Kategorien, aber dort wird nicht nach JVA oder Datum aufgeschlüsselt. Am strittigsten sind immer Situationen, zu denen die Polizei behauptet, sie habe gar nichts damit zu tun, dass die Person am Ende gestorben ist. Das betrifft zum Beispiel viele Situationen in Gewahrsam, aber das sehen wir auch bei den Tasertoten.
Lotta Maier ist aktiv bei »Death in Custody«
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