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Aus: Ausgabe vom 30.01.2025, Seite 5 / Inland
»Warntag der Wirtschaft«

Wahnmache der Wirtschaft

INSM und Kapitalverbände wollen wieder Weltspitze werden. Beschäftigte und Klima sollen Zeche dafür zahlen
Von Niki Uhlmann
DGB-Protest gegen den Wirtschaftswarntag und dessen Forderung nach ungezügeltem Kapitalismus
Flexibel: Besorgte Profiteure der Klassengesellschaft protestieren am Mittwoch nachmittag, statt zu arbeiten (Berlin, 29.1.2025)
Christian Lindner mischt natürlich mit, wenn es gegen Lohnabhängige geht (Berlin, 29.1.2025)
Verstrahlt: Auch Kernenergiebefürworter sind im Wirtschaftswahn (Berlin, 29.1.2025)
Friert für den Standort: Ein Halbstarker posiert im Merz-Pulli neben einer Deutschland-Fahne (29.1.2025)

Es ist amtlich. Aller wahlkämpferischen Zuversicht des scheidenden Wirtschaftsministers Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) zum Trotz, wird die Wirtschaft der BRD ein weiteres Jahr in Folge kaum wachsen. Mickrige 0,3 Prozent prognostiziert der Jahreswirtschaftsbericht 2025 seines Ministeriums. Die »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« (INSM), eine neoliberale, von Unternehmerverbänden der Metall- und Elektroindustrie finanzierte Denkfabrik, nahm diese Prognose am Mittwoch zum Anlass, einen Wirtschaftswarntag auszurufen. Bundesweit blies sie zusammen mit Kapitalverbänden zum Protest für ungezügelte Profitmaximierung.

»Wie wir wieder Weltspitze werden«, erklärte die INSM schon am Dienstag mit einer zweiseitigen Titelanzeige im Springer-Blatt Welt. Entwickelten deutsche Unternehmer in der Vergangenheit angesichts globaler Krisen Führungsansprüche, hatten diese imperialistische Kriege zur Folge. Insofern kann ein wenig entwarnt werden. Im Zehn-Punkte-Plan der INSM sind noch keine militärische Expansion und Arbeitslager vorgesehen. Beschäftigten soll es dennoch an den Kragen gehen. Unter dem Stichwort »Flexibilisierung« fordert man laxeres Arbeitsrecht. Eine »Obergrenze für Sozialabgaben« soll entlasten. Weniger Soziales freut das Kapital immer. Einkommensarme könnten die dann notwendige, private Vorsorge aber nicht stemmen und wären zu gesundheitlicher Unterversorgung und bedrohlicher Altersarmut verdammt. Nicht fehlen darf der neoliberale Evergreen »Steuersenkungen für Unternehmen«. Eine Stärkung des Freihandels und »Bürokratieabbau« runden den üblichen Rahmen ab.

Am Brandenburger Tor in Berlin fand am Mittwoch eine der zentralen Kundgebungen statt. Etwas makaber wirkte schon aus der Ferne ein Schild mit der Aufschrift »Wirtschaftskrise ist jetzt«. Es erinnert an das antifaschistische Motto »Nie wieder ist jetzt«, das Tausende Menschen am selben Ort als Protest gegen den Rechtsruck skandierten. Das Aktionsbündnis Wirtschaftswarntag konnte nur 300 bis 400 Personen mobilisieren, darunter viel Presse, noch mehr freigestellte Beschäftigte der beteiligten Verbände, aber wenige genuine Demonstranten. Um so mehr stachen die kuriosen Gäste heraus. Ein Physiker der Initiative Nuklearia schwenkte eine Fahne, die ein glückliches Atom zeigt: »Kernenergie? Ja Bitte!« Sie sei, physikalisch betrachtet, die vernünftigste, weil billigste Energiequelle, behauptete er gegenüber jW. Nebenan posierte ein Halbstarker im Merz-Pulli neben einer Deutschlandfahne.

Deutlich wird der Widerspruch zwischen Anspruch und Forderung der Kundgebung auch bei Judith Röder, Geschäftsführerin beim Bundesverband Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen. Die sozialen Sicherungssysteme müssten auf eine »sinnvolle Basis« gestellt werden, so Röder gegenüber jW. Konkret hieße das, Menschen zwecks Generationengerechtigkeit länger arbeiten zu lassen, die Mütterrente den Kindern zuliebe nicht auszuweiten und den Haushalt des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zurechtzustutzen. Klartext: Mehr Arbeit, weniger Sozialstaat. Noch unverblümter drückte es Michael Heinz, Präsident des Bundesverbandes Deutscher Versicherungskaufleute sowie des Bundesverbands der Dienstleistungswirtschaft, aus. »Wir müssen mehr arbeiten. Wir können nicht nur Work-Life-Balance machen«, sagt er jW. Das sei unpopulär, aber »nicht arbeitnehmerfeindlich«. Er arbeite »locker 60 Stunden« pro Woche. »Das ist Verantwortung.« Derlei »Leistungsbereitschaft« könne man sich von ihm abgucken.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite protestiert eine Handvoll Gewerkschafter gegen den Wirtschaftswahn der Kapitalverbände. In ihrem Flugblatt heißt es: »Deutschland hat kein Standortproblem, sondern ein Vorstandsproblem.« Diese hätten jahrelang »Trends verschlafen oder ideologisch boykottiert«, seien verantwortlich für die Misere, für die sie jetzt ihre Beschäftigten haften lassen wollen. Der DGB fordert statt dessen eine Vermögenssteuer, stärkere Tarifbindung sowie Beibehaltung gültiger Arbeitsschutzmaßnahmen und konsequenten Klimaschutz. Als Christian Lindner (FDP) auftauchte, riefen die Gewerkschafter: »Gute Arbeit, fairer Lohn, Lindner in die Produktion!« Der behauptete wiederum gegenüber jW, Kapitalisten würden ihre Beschäftigten fair bezahlen.

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