Symbol des Leidens in Gaza
Von Helga BaumgartenAm 29. Januar 2024, vor etwa einem Jahr, töteten israelische Soldaten in Gaza die sechsjährige Hind Rajab. Die Armee hatte alle Bewohner in ihrem Wohnviertel aufgefordert, sofort ihre Häuser zu verlassen. Die Mutter nahm ihre älteren Kinder und flüchtete zu Fuß. Wegen des schlechten Wetters mit Regen und Kälte ließ sie Hind, die Jüngste, bei ihrem Bruder und dessen Familie, die mit dem Auto in Sicherheit fahren wollte. Doch sie geriet unter den Beschuss eines Panzers, obwohl offensichtlich war, dass hier Menschen dem Befehl der Armee folgten.
Die einzigen Überlebenden waren Lajan, die zwölfjährige Cousine von Hind, und diese selbst. Sie hatten ein Handy bei sich, und Lajan rief in ihrer Verzweiflung beim Roten Halbmond an. Sie erreichte die Zentrale in Ramallah und flehte um Hilfe. Die Mitarbeiterin Rana redete mit den Mädchen und versuchte, sie zu beruhigen. Dann gab es eine neue Salve von Schüssen. Rana rief nach Lajan. Nur Hind konnte noch antworten: »Alle sind tot. Der Panzer ist ganz nahe und bewegt sich. Ich habe solche Angst. Holt ihr mich raus?«
Rana redete ununterbrochen mit Hind. Die Kollegen in Gaza unternahmen alles, um von der Armee eine Genehmigung zu bekommen, dass ein Krankenwagen das kleine Mädchen rettet. Nach stundenlangen Versuchen waren sie endlich erfolgreich: Die Armee gab die Erlaubnis. Der Krankenwagen mit Jusuf Al-Seino und Ahmed Al-Madhun fuhr los und war schon in Sichtweite des Autos, in dem Hind auf Rettung wartete. Da feuerten die Soldaten im Panzer ein weiteres Mal: Diesmal töteten sie zuerst Hind und dann die beiden Krankenpfleger. Die Tragödie war live im arabischen Satellitenfernsehen zu verfolgen.
Ich erinnere mich, wie wir alle in Tränen ausbrachen, als die Nachricht von der Ermordung Hinds und ihrer Retter kam. Für die israelische Armee, leider auch für die israelische Gesellschaft war das kein nennenswertes Thema. Denn die Einstellung dort ist klar: Jedes Kind in Gaza ist ein potentieller Terrorist. Je früher es »beseitigt« wird, desto besser. Institutionen wie die UNO, der Internationale Gerichtshof und das Internationale Strafgericht scheinen hilflos und machtlos gegen die Verbrechen und den Völkermord Israels in Gaza.
Deshalb schlossen sich Aktivisten weltweit zusammen und gründeten die Hind Rajab Foundation. Ihr Ziel: Alle israelischen Militärs, vom einfachen Soldat bis hin zu den führenden Militärs, müssen zur Verantwortung gezogen werden. Die Grundlage dafür ist für jeden zugänglich: Israelische Soldaten prahlen mit ihren Verbrechen in den sozialen Netzwerken, auf Bildern und Videos. Die hohen Militärs sprechen Klartext in ihren öffentlichen Reden.
Inzwischen gibt es mehrere Fälle, in denen israelische Soldaten vor einer Festnahme in ihren Urlaubsländern – nach der Teilnahme am Völkermord muss man sich schließlich erholen – mit Hilfe ihrer Botschaften bzw. des Geheimdienstes fliehen mussten, zum Beispiel aus Brasilien. In Israel wissen inzwischen alle, dass es keine Sicherheit vor einer Verhaftung gibt, wenn man irgendwo in der Welt Urlaub machen möchte – es sei denn, man fliegt in die USA. Wenn sie ein Visum für Neuseeland beantragen, müssen israelische Männer bereits genaue Angaben über ihren Armeedienst und ihre Einsätze geben.
Auch israelische Regierungsmitglieder müssen sich vor der Hind Rajab Foundation in acht nehmen. Diasporaminister Amichai Chikli musste eine Reise nach Brüssel absagen. Gegen ihn läuft ein Verfahren wegen Bedrohung eines belgischen Bürgers. Chikli hatte den Mitbegründer und derzeitigen Präsidenten der Hind Rajab Foundation, Diab Abu Jahja, auf X bedroht: »Ein Gruß an unseren Menschenrechtsaktivisten: Watch your pager (Achten Sie auf Ihren Pager)!« Entsprechende Geräte hatte Israel nämlich im Fall der libanesischen Hisbollah manipuliert und ferngezündet. Abu Jahjas Rechtsanwalt argumentiert, dass solche Drohungen nach belgischem Recht verboten seien und einen terroristischen Akt darstellten.
Dies ist der 23. »Brief aus Jerusalem« von Helga Baumgarten, emeritierte Professorin für Politik der Universität Birzeit
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