Ein Stückchen Freiheit
Von Karim Natour»Wenn Besucher von draußen kommen, vergessen wir, wo wir hier sind«, sagt Nico nach der Aufführung. »Dann müssen wir wieder in unsere Zellen, und uns wird bewusst, dass wir immer noch im Knast sind«, fügt der 21jährige »Bewohner« hinzu. So werden Gefangene in der Berliner Jugendstrafanstalt (JSA) am Plötzensee vom Personal genannt. Nico ist einer von fünf Strafgefangenen, die am Dienstag nachmittag in der Schule der JSA auf der Bühne stehen. Anlässlich des einhundertjährigen Geburtstags von Helmuth Hübener, nach dem die Schule 2020 benannt wurde, haben die jungen Erwachsenen eine szenische Lesung zum Ende der Weimarer Republik und zum deutschen Faschismus vorbereitet. 1942 wurde Hübener mit 17 Jahren vom sogenannten Volksgerichtshof (VGH) der Nazis zum Tode verurteilt und in der Hinrichtungsstätte des Strafgefängnisses Berlin-Plötzensee hingerichtet. Über 2.800 Todesurteile wurden zwischen 1933 und 1945 hier vollstreckt. Hübener, der jüngste von den Nazis verurteilte Widerstandskämpfer, wurde enthauptet, weil er dem »Feindsender« BBC statt des Volksempfängers gelauscht und antifaschistische Texte verbreitet hatte. Heute befindet sich in den historischen Gebäuden des Gefängnisses die Justizvollzugsanstalt Plötzensee, direkt daneben liegt der »Jugendknast«.
Das Stück soll eine Mahnung sein, sagt der 21jährige Yilmaz, der einen Großteil der Texte vorgetragen hat. Aber das Thema sei auch sehr aktuell. Die AfD werde »zu viel gewählt«. Zitiert werden die Schriftsteller Kurt Tucholsky, Erich Kästner und Primo Levi. Der Widerstand Hübeners wird besonders gewürdigt, seine Verurteilung nachgespielt. Originalzitate von Adolf Hitler, Joseph Goebbels und Roland Freisler werden vorgetragen. Freisler war einer der fünfzehn Teilnehmer der Wannseekonferenz, ab 1942 Präsident des VGH und Hübeners Richter. Die fünf Gefangenen erzählen zentrale Etappen der Nazidiktatur: die Machtübergabe an die Faschisten durch die bürgerlichen Kräfte der Weimarer Republik, der Reichstagsbrand und die Bücherverbrennung 1933, die Novemberpogrome 1938 bis zum Zweiten Weltkrieg. Im Hintergrund sind Porträts der Zitierten an die Wand projiziert. Für Unterbrechungen sorgen aggressive Durchsagen aus dem Off, die Naziparagraphen oder Reden zitieren. Immer wieder kommen Darsteller ins Publikum, verteilen Flyer mit historischen Artikeln des Völkischen Beobachters oder von NSDAP-Wahlplakaten. Tucholsky wird zu HipHop-Beats neu interpretiert. So wird die Geschichte des deutschen Faschismus auch Mitgefangenen nähergebracht, die ebenfalls im Publikum sitzen.
Die Vorstellung wirkt nicht wie ein Schulprojekt. Das liegt auch an Tamer Yiğit. Der Regisseur war jahrelang am Berliner Theater Hebbel am Ufer und hat die Proben fünf Monate lang begleitet. »Ich habe die Jungs nicht anders behandelt als ein Profiensemble«, erklärt er. Er habe sie gefordert, »damit sie etwas für ihre Zukunft mitnehmen«. An der Helmuth-Hübener-Schule gibt es noch andere kreative Projekte. Viele sind aktuell von Kürzungen der Senatsverwaltung für Justiz bedroht, erklärt Schulleiterin Birgit Lang. Die Mittel für den Podcast »Zweidrittel FM« zum Beispiel seien vollständig gekürzt worden. Mit den Projekten wolle man »Klischees brechen«, so Lang. Das sagt auch Nico. Die Leute »von draußen« sollten »aufhören, Vorurteile zu haben«. Viele Gefangene seien »ganz normale Menschen, denen irgendwann einmal ein Fehler« passiert sei. Natürlich sei es heute nicht wie damals, meint Yilmaz. Trotzdem mache »das etwas mit einem«, Texte von Gefangenen vorzulesen – »weil wir auch inhaftiert sind«.
Nach der Aufführung müssen die Gefangenen zurück in ihre Zellen. In der Disziplinierungsanlage sitzen sie mehrjährige Haftstrafen ab. Wir Besucher werden vom Wachpersonal freundlich durch die Sicherheitsschleuse geführt, vorbei am Wandbild mit dem Konterfei von Hübener, das die Hauswand der Schule ziert. Vorbei auch am Stacheldraht und den Gitterfenstern, hinter denen rund 300 junge Menschen auf das Ende ihrer Haft warten.
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