Anständig gegen Merz
Von Kristian Stemmler
Für CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz gab es am Wochenende, drei Wochen vor der Bundestagswahl, offenbar nur eine Strategie: Mit neuen Vorstößen das Fiasko vom Freitag vergessen machen. Peinlich für ihn war die Abstimmung über das »Zustrombegrenzungsgesetz« im Bundestag, bei der zwölf Unionsabgeordnete ihm die Gefolgschaft verweigert hatten, weil sie nicht mit der AfD zusammen stimmen wollten. So gab Merz via Bild am Sonntag eine »Garantie« für eine Wende in der Asyl- und Wirtschaftspolitik ab, sollte er zum Bundeskanzler gewählt werden. »Wir brauchen in Deutschland einen Politikwechsel«, insistierte er.
Hilfreich für die Strategie von Merz waren auch Berichte über den Wahlparteitag am Montag in Berlin, bei dem ein »Sofortprogramm« als Beschlussentwurf vorliegt. Dieses enthält auch den umstrittenen »Fünfpunkteplan« von Merz zum Stopp der »illegalen Migration«. Alle Bemühungen des CDU-Chefs konnten allerdings nicht verhindern, dass die Empörung über das Zusammengehen der Union mit der AfD im Bundestag weiter um sich griff. Nicht nur in bürgerlichen Medien, von Kirchen, Gewerkschaften und Verbänden wurde Merz vielfach kritisiert, erneut gingen auch in vielen deutschen Städten Zehntausende auf die Straße, um gegen dieses Vorgehen zu protestieren.
Allein in Hamburg demonstrierten am Sonnabend nach Polizeiangaben rund 65.000 Menschen, der Veranstalter sprach sogar von 80.000. In Essen waren es laut Polizei 14.000, in Köln versammelten sich Tausende. Auch in anderen Städten wurde demonstriert, etwa in Karlsruhe, Stuttgart, Braunschweig, Würzburg, Augsburg und Bremen.
Am Sonntag fanden weitere bürgerliche Proteste statt, etwa in Berlin unter dem Motto »Aufstand der Anständigen – Demo für die Brandmauer«. Die Kampagnenorganisation Campact als Veranstalter erklärte, die Demonstration richte sich gegen Merz, der »ein großes Loch in die Brandmauer gegenüber den Rechtsextremen« gerissen hätte. Die Demo startete nachmittags auf der Reichstagswiese und führte zur CDU-Zentrale. Neben dem Publizisten Michel Friedman, der aus Protest gegen die Abstimmungen vom Mittwoch aus der CDU ausgetreten war, sprach auch der frühere EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm.
Auch in der Politik reißt die Kritik an Merz nicht ab. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) nannte dessen Vorgehen gegenüber dem Tagesspiegel »einen Jammer für die Union und einen Schaden für die gesamte Demokratie«. Die Gefahr sei, dass Merz’ Vorgehen auf kommunaler und Landesebene von vielen seiner Parteifreunde als Freifahrtschein für noch weitergehende Zusammenarbeit mit der AfD verstanden werde, so der Minister. Der Kanzlerkandidat von Bündnis 90/Die Grünen, Robert Habeck, sprach von einem »Wortbruch« und mit Blick auf die Bundestagssitzung vom Freitag von einer »Erpressungssituation«. Dass dies ohne Einfluss auf die Wahlentscheidung der Deutschen bleibe, könne er sich nicht vorstellen, sagte Habeck bei einer Veranstaltung der Nordwest-Zeitung in Oldenburg.
CSU-Chef Markus Söder stellte sich dagegen demonstrativ hinter Merz. Kein CSU-Abgeordneter habe bei der Abstimmung im Bundestag gefehlt, schrieb er am Sonntag im Kurznachrichtendienst X. Merz habe »in der Migrationsfrage eine Leitentscheidung getroffen«, so Söder.
Das »Sofortprogramm« der CDU, das heute beschlossen werden soll, enthält 15 Maßnahmen, von denen ein Großteil auf die Rückabwicklung von Gesetzen der Ampel hinausläuft. So soll das Heizungsgesetz ebenso kassiert werden wie das Lieferkettengesetz. Stromsteuer und Netzentgelte sollen gesenkt werden, so dass eine Entlastung von mindestens fünf Cent pro Kilowattstunde entsteht. Anstelle einer täglichen soll eine wöchentliche Höchstarbeitszeit festgelegt und so »flexibleres Arbeiten« ermöglicht werden. Überstundenzuschläge sollen steuerfrei gestellt werden. Zudem soll die Zahl der Regierungsbeauftragten halbiert werden. So schnell wie möglich soll die »Expresseinbürgerung der Ampel rückgängig« gemacht werden, heißt es im Programm. FDP-Fraktionschef Christian Dürr hat das »Sofortprogramm« von Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz (CDU) begrüßt - und die Unterstützung seiner Partei bei der Umsetzung angeboten
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Leserbrief von Dr. Wolfgang Doster aus Erding (3. Februar 2025 um 12:55 Uhr)Für viele scheint der Kampf gegen Rechts das Hauptproblem der Deutschen zu sein, die akute Kriegsgefahr wird dabei ignoriert. Dabei kam in Deutschland der Faschismus bisher immer aus der Mitte der Gesellschaft. Adenauer hat sich als Oberbürgermeister von Köln 1932 für die Wahl von Hitler eingesetzt. Die BRD, die Bundeswehr wurden von Altnazi aufgebaut. Zum Faschismus gehört immer auch der Wille zum Krieg. Das sehe ich eher bei den Altparteien als bei der AfD. Und was soll die Kollaboration der Regierung mit Ultrarechten weltweit? Von der Leyen ist mit den Stimmen der Neufaschisten aus Italien gewählt worden. Gab es da einen Eklat wie am Freitag im Bundestag? In Kiew werden die Postfaschisten des Banderakomplexes mit Geld und Waffen unterstützt, das gleiche gilt für den Gazakrieg. Der Altantifaschist Silone warnte 1945: Wenn der Faschismus zurückkommt, wird er nicht sagen »ich bin der Faschismus«, er wird sagen, »ich bin der Antifaschistmus«. Bei der Münchner Friedensbewegung führte diese Diskrepanz zur Spaltung, der Kampf gegen Rechts ist praktisch wichtiger als der Kampf gegen den Krieg. Und der Völkermord gegen die russische Bevölkerung bis 1945 bleibt anders als der Holocaust ungesühnt.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Detlev R. aus Tshwane, Südafrika (3. Februar 2025 um 07:02 Uhr)Auf ein Wort. »Bürgerlicher Protest« - selbst aus der Ferne wage ich einzuschätzen, dass der Zungenschlag dieses Berichts über die Demos gegen die Blockabstimmung Merz-CDU/AfD etwas Abqualifizierendes signalisiert. Es sei denn der Kollege Kristian Stemmler dachte beim Schreiben an den »citoyen« oder vielleicht an den »Bürger« wie es im einstigen sozialistischen Teil Deutschlands gebräuchlich war? Eher nicht, denke ich. Ich bin mir ziemlich sicher - und ich weiß es aus persönlichen Infos, die ich von Freunden aus Berlin und Baden erhielt -, dass die großen Demonstrationen in vielen Städten von »nicht-Bürgerlichen« getragen wurden. Das viele Bürgerliche daran teilnahmen und teilweise dominierten ist sicher eine Tatsache. Aber deswegen nun pauschal die gesamte Bewegung der letzten Tage als »bürgerlich« (im negativen Sinne) abzustempeln, halte ich für falsch.
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Leserbrief von Mueller aus Rudolstadt (2. Februar 2025 um 20:36 Uhr)Ich finde das ein super Polit-Kabarett. In Berlin demonstriert man für eine sogenannte Brandmauer. Ja wieviel Irrsinn geht da denn noch? Vor 35 Jahren wurde die Berliner Mauer als Grenze der DDR zu Westberlin durch Ostberliner Demos geöffnet und jetzt fordern Hunderttausende Ost - und Westberliner eine Brandmauer gegen Andersdenkende. Die Berliner Mauer damals war doch auch gegen Andersdenkende, als sie fiel jubelte die ganze Welt, Ostberliner und Westberliner weinten vor Glück und lagen sich in den Armen. Und nun wollen Berliner Menschenmassen die Mauer wiederhaben, als Lehre aus der Vergangenheit? Ich verstehe die Welt nicht mehr. Wir Alten wissen, was die damalige Mauer für geistigen Schaden angerichtet hat und jetzt soll das ganze böse Spiel noch mal stattfinden? Ja, damals die Mauer hat die DDR bezahlt und die neue Mauer wer bezahlt die denn? Aber nicht wir Ossis, wir sind mehrheitlich gegen diese Brandmauer. Soll das zum Bürgerkrieg ausarten? Dürfen wir nicht mehr die freie Meinung äußern, wegen der Brandmauer? Wer will uns dazu zwingen unser Gehirn auszuschalten? Diese Brandmauer wird keine 27 Jahre mehr stehen bleiben, denn wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Thomas
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