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Aus: Ausgabe vom 08.02.2025, Seite 10 / Feuilleton
Architektur

»Der letzte europäische Boulevard«

Zwischen Arbeiterwohnung und Spekulationsobjekt: Christian Gruenlers Buch über die Berliner Stalinallee
Von Martin Küpper
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Frohes neues Jahr: Einzug in die Wohnungen in der damaligen »Stalinallee« (Berlin, im Januar 1953)

Der 7. Januar 1953 ist ein typischer Berliner Wintertag: nicht zu kalt, aber auch nicht zu freundlich. In der Stalinallee rollten einige Möbelwagen über die verschneite Straße und transportierten das Hab und Gut der ersten 70 neuen Mieter. Es war kein gewöhnlicher Umzug. An diesem Tag sind die Lastwagen mit Transparenten geschmückt, die Wohnungen mit Girlanden und selbstgemalten Schildern. Mit dem Bau der Stalinallee sollten »dunkle Hinterhöfe und feuchte Kellerwohnungen der kapitalistischen Vergangenheit« angehören, heißt es am nächsten Tag triumphierend im Neuen Deutschland. Der Mietpreis betrug 90 Pfennig pro Quadratmeter.

Das klingt geradezu paradiesisch, wenn man die heutigen Bedingungen des Bauens und Wohnens betrachtet. Unter welchen Voraussetzungen dies möglich war und welche Schwierigkeiten dabei auftraten, kann in Christian Gruenlers Buch »Die Stalinbauten-Story« nachgelesen werden. Mit über 200 teils historischen, teils aktuellen Abbildungen beleuchtet er im ersten Teil die Baugeschichte und nimmt den Leser im zweiten Teil mit auf einen Spaziergang über den »letzten europäischen Boulevard« (Aldo Rossi), der sich von anderen westeuropäischen Beispielen dadurch unterscheidet, dass hier Wohnungen und Geschäfte für Angehörige der Arbeiterklasse entstanden.

Der Autor beginnt seine Erzählung mit der Frankfurter Straße und der Frankfurter Allee, die im 18. Jahrhundert als Handelswege nach Osten dienten. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Gegend vom Elend der Mietskasernenviertel geprägt. Mit dem Bau der U 5 wurde die Straße zwar besser in das neu entstandene Groß-Berlin integriert, doch Wirtschaftskrise, Naziherrschaft und Krieg verhinderten eine Verbesserung der Lebensbedingungen. Nach den verheerenden Bombenangriffen standen die für den Wiederaufbau Verantwortlichen vor gewaltigen Aufgaben. Detailliert schildert Gruenler die Konzeptionen für den Wiederaufbau, etwa den letztlich nicht realisierten »Kollektiv­plan«. Dieser wurde von einem Team um den Architekten Hans Scharoun entwickelt. Er sah vor, dass Friedrichshain ein Wohngebiet aus »Wohnzellen« für je 5.000 Bewohner mit niedriggeschossigen Wohnhäusern, viel Grün und Gemeinschaftseinrichtungen werden sollte. Die berühmten Laubenganghäuser an der heutigen Karl-Marx-Allee, die 1951 fertiggestellt wurden, geben einen Vorgeschmack.

Mit der Gründung der DDR und der BRD wurden diese Pläne obsolet. Das Buch zeichnet nach, wie sich die Baupolitik der jungen DDR an den Vorgaben der Sowjetunion orientierte, die sich beispielsweise in den »16 Grundsätzen des Städtebaus« niederschlugen. Dass sie aber den »Status eines verpflichtenden Gesetzes für alle Stellen, die im Bauwesen tätig waren«, gehabt hätten, ist falsch. Sie waren Richtlinien für das Bauen in der Stadt. Gesetzescharakter hatte nur das sogenannte Aufbaugesetz. Auch in anderen Bereichen gelingt es dem Autor nicht, das Baugeschehen mit den politischen Rahmenbedingungen adäquat zu vermitteln. Allzu oft ist das Buch mit totalitarismustheoretischen Einsprengseln versehen, wenn etwa kontrafaktisch behauptet wird, dass »nicht zuletzt auch die systematische Vernichtung von Opposition und das Verbreiten von Angst mit Hilfe der Staatssicherheit und – wenn es sein musste – auch mit Hilfe der rund 500.000 russischen Soldaten« das Bauvorhaben geprägt hätten.

Ansonsten bemüht sich der Autor in angenehm lakonischer Weise, die verschiedenen Entwürfe, Wettbewerbe und Ideen der beteiligten Architekten wie Hermann Henselmann, Richard Paulick und Hanns Hopp sowie den Bauablauf darzustellen. Bemerkenswert sind auch die Ausführungen zum Nationalen Aufbauwerk. Mit Arbeit und Geld sollte sich die Bevölkerung am Wiederaufbau beteiligen, ihn beschleunigen. Wer zum Beispiel freiwillig auf den Baustellen erschien, konnte sich für ein Los qualifizieren, um eine Wohnung in der Stalinallee zu erhalten. So gelang es 1952, neben den 23.000 Fachkräften auch 45.000 Freiwillige zu gewinnen, die auch für schwere Arbeiten eingesetzt wurden. Doch die Motivation ließ bald nach, die Unzufriedenheit wuchs. Das lag auch daran, dass auf der Baustelle chaotische Zustände herrschten, weil teilweise gleichzeitig gezeichnet und gebaut wurde. Die Proteste vom 17. Juni 1953 nahmen hier schließlich ihren Ausgang. Danach verlangsamte sich das Bautempo, bis 1958 der 1,8 km lange »Erste Bauabschnitt« fertiggestellt war. An den Gebäuden lässt sich der Stil der Zeit ablesen: ein Historismus, der sich am Klassizismus der Sowjetunion und am Berliner Klassizismus orientiert. Der »Zweite Bauabschnitt« vom Strausberger Platz bis zum Alexanderplatz entstand zwischen 1959 und 1969. Entsprechend der veränderten baupolitischen Stimmung war dieser Teil modernistisch geprägt. Mit dem Ende der DDR setzten privatwirtschaftliche Mietverhältnisse ein, der Sanierungsbedarf stieg, und zwei Initiativen, die Stalinbauten in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufzunehmen, scheiterten.

Was passiert heute mit den Gebäuden an der Karl-Marx-Allee? Für Eigentumswohnungen muss man dort mittlerweile zwischen 5.000 und 8.000 Euro pro Quadratmeter bezahlen. Die Wohnung in der Turmspitze am Frankfurter Tor wurde für 2,1 Millionen Euro angeboten. Das Geld, so glaubt der Autor, bräuchte man »angesichts des Zustands der staatlichen Haushalte doch dringend«. Der Erhalt des Denkmals sei nämlich am ehesten durch »– im Prinzip wohl meistens gutwillige – private Investoren« gesichert.

Christian Gruenler: Die Stalinbauten-Story. Geschichte und Architektur des Ostberliner Prachtboulevards. Bebra-Verlag, Berlin 2024, 184 Seiten, 22 Euro

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