Der diskreditierte Fortschritt
Von Helge Buttkereit![imago301099180.jpg](/img/450/205262.jpg)
Das Buch von Hauke Ritz beginnt mit einer Kinderfrage: »Warum hasst der Westen Russland so sehr?« Die Antwort des Autors in wenigen Worten: Russland steht für das »alte Europa« und hat die Transformation der europäischen Kultur nicht mitgemacht, die seit dem Kalten Krieg unter der Führung der USA vorangetrieben wird. Russland sei eine Art Gegenentwurf zum Versuch, die globale Dominanz der USA auch in den Köpfen der Menschen so tief zu verankern, dass diese Herrschaft verewigt wird. Solange Russland souverän sei, stehe es gegen den »Westen« und stelle für die Europäer »einen Ausweg« dar.
Ritz hat dabei nicht in erster Linie die unmittelbare Gegenwart im Blick, sondern holt weiter aus. Er erinnert daran, was für eine Herausforderung für die Hegemonialmacht die Sowjetunion und der Sozialismus waren. Beide stellten das kapitalistische Weltsystem in Frage – ökonomisch und kulturell. Bis in die 1970er Jahre hinein, so schreibt Ritz, dominierten auch im Westen in den Geisteswissenschaften verschiedene Schulen linker Theoriebildung. Die Traditionslinie der Geschichtsphilosophie Hegels, der kritischen Analyse des Kapitalismus durch Marx und die Verknüpfung mit der Psychoanalyse Freuds schuf, so Ritz, eine »Quelle schier unerschöpflicher Kreativität, der nichts Vergleichbares im rechten oder liberalen Spektrum gegenüberstand«.
Die USA antworteten mit einer kulturpolitischen Offensive, deren äußere Gestalt Rockmusik, Jeans und Hollywood waren. Aber sie ging tiefer. Ritz verweist zum Beispiel auf eine Studie der CIA aus dem Jahr 1985. Darin wird als Erfolg konstatiert, dass sich die Haltung der französischen Intellektuellen von einer antiamerikanischen zu einer antisowjetischen gewandelt habe. André Glucksmann und Michel Foucault übernahmen die Wortführerschaft und beeinflussten Debatten in anderen Ländern.
Große Anstrengungen wurden unternommen, eine intellektuelle nichtkommunistische Linke aufzubauen und deren Aufmerksamkeit statt auf das Gemeinwohl auf individuelle Rechte umzulenken. Als theoretischer Bezugspunkt kam Nietzsche in Frage, der Hegel ersetzte. Welche Folgen das hatte, beschreibt Ritz anhand der Wechselwirkung von Ideen- und Realgeschichte. Dieses Kapitel ist der interessanteste Teil des Buches, das zwar als Ganzes gut lesbar ist und die große Weltlage zwischen Kriegen, globaler Dominanz und ihrer Gegenpole beleuchtet, zuweilen aber leider ob der Vielzahl an behandelten Themenfeldern und wegen einiger unnötiger Wiederholungen den Fokus verliert.
Ritz verweist darauf, dass sich die Philosophie seit den ersten bürgerlichen Revolutionen und namentlich seit Hegel und Schelling nur noch der Wahrheit annähern kann, »wenn sie diese zuvor in ihrem Gewordensein begriffen hat, nämlich im Gefüge der Geschichte verortet und reflektiert«. Darauf aufbauend stellt Marx die Aufgabe, die Welt zu verändern. Die Idee des Kommunismus beruhe weitgehend auf dem christlichen Wertesystem und drücke sie im Vokabular der Ökonomie neu aus, findet Ritz. Nietzsche hingegen will den Einfluss des Christentums überwinden.
Der Philosoph, der die Werte umwerten wollte, war ideal für den Faschismus, aber auch den Kulturkampf des Kalten Krieges. Zwar präsentiert Ritz kein Quellenmaterial, das darauf hinweist, dass die Propagandisten explizit die Nietzsche-Rezeption beförderten. Aber es gibt Dokumente, die die intellektuelle Umdeutung von Werten als Ziel beschreiben. Außerdem kennen wir heute das Ergebnis: Die »Künstlichkeit des postmodernen Wertesystems« sei kein Zufall, schreibt Ritz. Der Fortschrittsgedanke sei spätestens ab den 1970er Jahren diskreditiert und durch dystopische Zukunftsvisionen ersetzt worden. Das optimistische Menschenbild des Humanismus wurde ersetzt durch die Herausstellung der zerstörerischen, irrationalen und unberechenbaren Seite des Menschen. Dieser muss reguliert oder gar durch Technologie »verbessert« werden.
Was hier nur grob skizziert wird, führt Ritz in seinem Buch breiter und durchaus überzeugend aus und macht damit klar, wie wichtig die kulturelle Dominanz für die unipolare Weltordnung unter der Führung der USA ist. Jede Alternative muss bekämpft werden. »Die bloße Tatsache, dass sich Russland der postmodernen Umwertung der europäischen Kultur nicht anschloss, stellte somit für die USA eine Bedrohung dar«, schreibt Ritz.
Er schließt es mit Überlegungen, wie Europa die »postmoderne Fehlinterpretation seiner eigenen Kultur (…) abschütteln« könnte. Er bleibt in der Logik seiner Darstellung und schlägt eine Orientierung auf die BRICS-Staaten vor, sein Europa ist postatlantisch. Was bei ihm vollkommen fehlt, ist allerdings ein historisches Subjekt, das Motor einer solchen Umorientierung sein könnte. Das hat einen Grund. Ritz erwähnt Ökonomie, Gesellschaft und Klassen (nebst dem vorübergehenden Sieg der Oligarchie im Klassenkampf) zwar immer mal wieder. Aber dieser Strang bleibt gegenüber der Kultur vollkommen blass. Das ist ein Manko, das aber nicht grundsätzlich die Leistung des Autors schmälert. Er liefert viel Diskussionsmaterial, das produktiv nutzbar wäre.
Hauke Ritz: Vom Niedergang des Westens zur Neuerfindung Europas. Promedia, Wien 2024, 267 Seiten, 23 Euro
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