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Aus: Ausgabe vom 10.02.2025, Seite 11 / Feuilleton
Kunst

Alle Wege offen

In Berlin würdigt das Museum Hamburger Bahnhof das Gesamtkunstwerk Semiha Berksoy
Von Matthias Reichelt
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Im Kreis ihrer Lieben: Semiha Berksoy (Blick in die Ausstellung)

Semiha Berksoy, 1910 in Istanbul geboren und 2004 dort gestorben, war nicht nur eine große Opernsängerin. Sie war auch Bildende Künstlerin, Film- und Theaterschauspielerin. Ihrem Lebenswerk haben in der Berliner Nationalgalerie der Gegenwart, dem Hamburger Bahnhof, die beiden Direktoren Sam Bardaouil und Till Fellrath eine große Ausstellung gewidmet. Zu sehen sind unter anderem Gemälde, Zeichnungen, Fotografien und Videos mit Film- und Opernausschnitten.

Die mit derart vielen Talenten gesegnete Semiha Berksoy war von großem Gestaltungs- und Ausdruckswillen. So inszenierte sie sich noch im hohen Alter für eine Homestory äußerst selbstbewusst in ihrem Schlafzimmer liegend, stark geschminkt und kostümiert, umgeben von ihrer Malerei und ihr wichtigen Utensilien. In einem späten Interview bezeichnete sie sich als »Gesamtkunstwerk«.

Im abgedunkelten Vorraum der Berliner Ausstellung sind kleinere Papierarbeiten neben Dokumenten in Vitrinen und einer Videoprojektion zu sehen. Danach tritt der Besucher durch einen mit einem Vorhang umrahmten Eingang und findet sich in einem zentralperspektivisch und symmetrisch angelegten gelblich-schwarzen Bühnenraum wieder. Der Weg ist beiderseits von schräggestellten Wänden gesäumt. Dort hängen großformatige Gemälde Berksoys, die ihre großen Opernrollen behandeln: Ariadne, Salome und Tosca. An den Seiten zwischen den schräggestellten Wänden sind thematisch gruppiert kleinere Werke zu sehen. Am Ende des Raums werden hinter einem Fotoporträt der Künstlerin auf Gaze in einer großen Projektion Filmszenen mit Arien der Sängerin gezeigt.

In der Kunstwelt ist Semiha Berksoy keine Unbekannte, ihr malerisches und zeichnerisches Werk wurde bereits 1969 im Haus am Lützowplatz in Berlin gezeigt und hat in den letzten Jahren bei großen Ausstellungshäusern und auf Biennalen neue Aufmerksamkeit gefunden. Aber mit der aktuellen Schau wird in Deutschland erstmals dieser Aspekt ihres Schaffens umfassend gewürdigt. In ihrer Malerei lassen sich Spuren von Kubismus, Konstruktivismus, Surrealismus oder auch Expressionismus finden, diese Einflüsse kombinierte sie mit opulenter Farbigkeit nebst Schrift, verschmolz sie zu einer eigenen ästhetischen Form. Gegenstand sind immer wieder die Opernrollen sowie wichtige Personen im Leben Berksoys, die von ihren Eltern künstlerisch geprägt wurde. Die Mutter, Fatma Saime Hanım, war eine angesehene Malerin, die bereits 1918 starb. Der Vater, Ziya Cenap Bey, verfasste neben seiner Arbeit im öffentlichen Dienst erfolgreich Lyrik. Mit 18 erhielt Berksoy Gesangsunterricht am Istanbuler Konservatorium. Ab 1929 folgten Studien in Malerei bei Namık İsmail, anschließend in Keramik und Bildhauerei bei Refik Epikman und İsmail Hakkı Oygar. Das allein belegt ihr breit gefächertes künstlerisches Interesse.

Eine Zeitlang war das Wirken als Opernsängerin und Schauspielerin dominant, doch ab den 1950er Jahren drängte sich die Malerei wieder in den Vordergrund. Nicht nur die elterliche Prägung, sondern auch die Ausrufung der Türkischen Republik durch Mustafa Kemal Atatürk 1923 und die anschließende Modernisierung des gesellschaftlichen Lebens mit mehr Freiheiten für Frauen ­waren wichtige Voraussetzungen dafür, dass Berksoy in ihrem Heimatland zu einem weiblichen Role Model werden konnte – das freilich erst später im Zeichen von Feminismus und Identitätspolitik Wirkung entfaltete.

Ihr erstes Engagement als Schauspielerin hatte Berksoy in Shakespeares »Der widerspenstigen Zähmung« am Stadttheater Istanbul unter Leitung von Muhsin Ertuğrul. Ihr Debüt auf der Opernbühne 1934 verdankte sie, dass Atatürk persönlich die erste in der Türkei produzierte Oper »Özsoy« in Auftrag gegeben hatte. In Nazideutschland konnte Semiha Berksoy ihre Gesangsausbildung ab 1936 dank eines von der Türkei bezahlten Stipendiums an der Hochschule für Musik in Berlin vertiefen. Der kommunistische türkische Lyriker Nâzım Hikmet, mit dem sie eine Liebesaffäre hatte, die in eine lebenslange Freundschaft mündete, wünschte Berksoy für ihren Aufenthalt in Deutschland: »Auf dass Dir alle Wege offenstehen, nicht in Hitlers, sondern in Beethovens Heimatland; ich wünsche Dir Siege, an denen kein Blut klebt, sondern die vor Leben strotzen.«

»Semiha Berksoy: Singing in Full Color«, Hamburger Bahnhof/Nationalgalerie der Gegenwart, Berlin, bis 11. Mai 2025, Katalog 20 Euro

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